Samstag, 10. September 2016

Bloomies vs. Putin



Bloomies vs. Putin, oder: Eine Botschaft an Polen, Balten, Ukraine


Die Nachrichtenagentur Bloomberg hat den russischen Präsident Putin scheinbar im Scherz gefragt, ob er keine Lust habe, Kaliningrad/Königsberg, eine russische Enklave zwischen Polen und Litauen abzutreten. Putins Antwort darauf war ebenso todernst wie doppelbödig: Wenn schon über eine Veränderung der Grenzziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg geredet werde, dann aber auch über die Grenzen Polens, der baltischen Staaten und der Ukraine, meinte er sinngemäß. Hier ist die Passage, auf dass sich jede(r) selbst ein Urteil bilde, wo der Scherz aufhört und der Ernst anfängt:

https://www.youtube.com/watch?v=NfKKBsv5lYU


Der Interviewer, der Bloomberg-Chefredakteur, stellte seine Frage, bei der er provozierend suggerierte, dass Russland ja nichts dabei finde Gebiete abzutreten.
Das “belegte” er mit der 2004 erfolgten Teilung eines Inselchens, das sich inmitten des chinesisch-russischen Grenzflusses Amur befindet. Putin, Scherzchen ansonsten nicht abhold, reagierte, als handle es sich um eine offizielle Anfrage durch den Botschafter eines präsumptiven Feindstaates.
Erst erklärte Putin knapp, dass der Teilungsvertrag zwischen der Volksrepublik China und der Russischen Förderation nach 40 Jahren Verhandlungen in einer Periode besonders guter Beziehungen abgeschlossen worden sei. Das habe nichts mit dem Weltkrieg oder den folgenden Friedensverträgen zu tun gehabt.
Sollten einmal zu Japan ähnlich gute Beziehungen herrschen, seien auch in der Kurilenfrage Kompromisse möglich, meinte Putin  – was aber Kaliningrad angehe…
Hier wirft der Interviewer lachend ein, er habe ja nur einen Witz gemacht – aber der russische Präsident  antwortet ohne sich beirren zu lassen und “ganz im Ernst” (Übersetzung gemäß den auf YT mitgelieferten Untertiteln):
Falls jemand den Wunsch verspürt, die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs zu überschreiben, dann soll er das gerne versuchen. Aber dann sollte man nicht über Kaliningrad allein diskutieren, sondern generell über ostdeutsche Gebiete (in Polen), über Lwiw-Lemberg (Westukraine), das vor dem Krieg Teil von Polen war (und über) Teile des heutigen Ungarns, Rumäniens und anderen Ländern (??? – missverständlich). Also, falls jemand diese Büchse der Pandora öffnen möchte, dann soll er das doch versuchen – viel Spaß damit.”
Damit war das Thema beendet und das Interview wandte sich anderen Themen zu.
Nun sollte man zwei Dinge wissen, um die Antwort Putins würdigen zu können – dass nämlich
  • ein transatlantischer Think Tank vor kurzem das Szenario eines militärischen Konflikts in Osteuropa vorgelegt hat, in dem Polen empfohlen wird, im Ernstfall in den Oblast Kaliningrad einzumarschieren sowie dass russische Militärs glauben, dass eine Einnahme Kaliningrads nur die Vorstufe eines Angriffs auf St. Petersburg ist; sowie dass
  • etliche Russen den Interviewer John Micklethwait nicht als bloßen Journalisten sehen, sondern als Fädenzieher in der angelsächsisch-europäischen Führungselite – siehe z.B. hier.
In dieser Situation sendet der russische Präsident eine doppelte Botschaft aus.
  • Die erste lautet: Wenn ihr die nach dem Zweiten Weltkrieg in Osteuropa gezogenen Vereinbarungen in Frage stellt, seid Euch bewusst, dass es nicht nur um die Westgrenze Russlands geht. Ihr schneidet ein Thema an, das in viel Blut und großen Verwicklungen enden kann.
  • Der “doppelte Boden” ist die Antwort: Wenn wir über 1945 hinaus zurück gehen, gibt es viele Staaten, die historische Gebietsansprüche haben, nicht nur Russland. Zum Beispiel Deutschland auf große heute polnische Gebiete. Oder eine Reihe osteuropäischer Staaten auf die heutige Westukraine.
Putin, der ohne jeden Zweifel die auf ihn wartenden Fragen kannte, “führt hier eine Diskussion”, die – wie ich behaupte – sonst nur hinter doppelt gepolsterten Türen stattfindet, eine zwischen den führenden Transatlantikern und dem Kreml.
Micklethwait mochte persönlich und als Journalist vielleicht das alles wirklich nicht wissen – aber die Leute, die in den vergangenen 20 Jahren die militärstrategische Grenze Russlands 1.500 Kilometer nach Osten verschoben haben, sind sehr wohl daran interessiert.
Die beiden Parteien können heute nicht bloß ein paar Berittene mit Hieb- und Stichwaffen aufeinander losschicken. Sie sind imstande, die ganze Region, ja, den ganzen Planeten zu verbrennen.

Unabhängiger Journalist