von Gert Ewen Ungar
Große
mediale Aufmerksamkeit war der Westbalkankonferenz, mit der die Länder
Albanien, Serbien, die Republik Kosovo, Bosnien-Herzegowina und
Nordmazedonien auf einen EU-Beitritt vorbereitet werden sollen, nicht
beschieden.
Obwohl unter geopolitischen Gesichtspunkten ausgesprochen
interessant, blieb es weitgehend ruhig im Mainstream. Das hat seinen
Grund, denn an der Konferenz lässt sich der Zustand der EU gut ablesen.
Es
wird deutlich, wie sehr die EU in den letzten Jahren ökonomisch und
politisch die Weichen falsch gestellt, sich geradezu verrannt hat.
Dadurch hat sie massiv an Attraktivität, aber auch an Integrationskraft
verloren.
Zwar haben sich die Länder, die zum Westbalkan zählen,
für einen EU-Beitritt bereits hübsch gemacht, allerdings wird das für
die tatsächliche Aufnahme von Beitrittsverhandlungen kaum ausreichen.
Nordmazedonien hat beispielsweise seinen Namen geändert, um nach einem
Beitritt nicht in einen Konflikt mit Griechenland zu geraten. Das kann
jedoch kaum darüber hinwegtäuschen, dass die Konflikte der einzelnen
Länder untereinander noch immer schwelen.
Für einen EU-Beitritt
ist das ein großes Problem. Die Republik Kosovo erkennen zudem nicht nur
Serbien und Albanien nicht an. Auch fünf Staaten der EU verweigern der
Republik die Anerkennung, die nach dem Völkerrechtsbruch der NATO
gegenüber der Bundesrepublik Jugoslawien zunächst als UN-Protektorat
eingerichtet wurde und sich schließlich für unabhängig erklärt hat.
Mit
den Statuten der EU ist das freilich nicht vereinbar. Ein Staat muss
zumindest anerkannt sein, um beitreten zu können. Das Kosovo-Problem,
das durch den Völkerrechtsbruch der NATO und damit auch Deutschlands
überhaupt erst in die Welt kam, muss zwingend gelöst werden. Diese
Lösung liegt allerdings in weiter Ferne.
Schöne Worte statt konkrete Taten
Die
Konferenz verlief aber nicht nur deshalb für die Beitrittsaspiranten
nicht zufriedenstellend, denn es gab zwar viel warme Worte, darüber
hinaus waren die teilnehmenden EU-Staaten aber nicht in der Lage,
Verbindlichkeiten einzugehen.
Das liegt zum einen daran, dass der
Prozess der Integration in der EU zum Erliegen gekommen ist, im
Gegenteil sogar die Zentrifugalkräfte zunehmen, welche das
Staatenbündnis auseinanderzureißen drohen.
Die Länder der letzten beiden
Erweiterungsrunden sind bis auf Zypern und Malta alles ehemalige
Staaten des Warschauer Paktes. Ihre Aufnahme diente eher geopolitischen
Zwecken, der Positionierung der EU gegen Russland. Denn diese Länder
waren strukturell in keiner Weise bereit für eine Aufnahme.
Polen
und Ungarn stehen regelmäßig diametral zur Politik Brüssels, die
baltischen Staaten kochen ohnehin ihr eigenes Süppchen
und fühlen sich
an europäische Standards wie zum Beispiel die EU-Charta für
Menschenrechte nicht gebunden. Man lässt es ihnen vermutlich aufgrund
ihrer Größe regelmäßig durchgehen. Dem Ansehen der EU schadet es dessen
ungeachtet trotzdem, denn der Vorwurf mit doppelten Standards zu
operieren, lässt sich angesichts der schweren Verstöße der baltischen
Staaten gegen Anti-Diskriminierungsrichtlinien der EU nicht von der Hand
weisen.
Auch
gelang es den baltischen Staaten in der Zeit ihrer Mitgliedschaft
nicht, ein eigenes Geschäftsmodell zu entwickeln; sie hängen am Tropf
von Programmen und Geldern aus Brüssel.
Der wichtigste Handelspartner
bleibt das verhasste Russland, dem man die Schuld für eigenes Unvermögen
und Versagen in die Schuhe schiebt. Auf dem gesamteuropäischen Markt
sind die Produkte der baltischen Staaten nicht konkurrenzfähig.
Die
vergleichsweise niedrige Arbeitslosigkeit liegt an der Massenabwanderung
junger Menschen. Das ist dann auch der Exportschlager nicht nur der
baltischen Länder: billige Arbeitskräfte für den Dienstleistungssektor
in anderen EU-Ländern. Rumänien, Bulgarien und Polen verfolgen das
gleiche Modell.
Das
ist mit ein Grund für den anhaltenden Druck auf die Löhne in den
Ländern, in die zugewandert wird, insbesondere im unteren Lohnsegment.
Dieser Druck und der Unwille, dies zu regulieren, führte zu einer
Verschiebung der EU nach rechts und war ein Motor für den Brexit.
Denn
Zuwanderung in den lokalen Arbeitsmarkt und die damit verbundenen Sorgen
der Briten war ein zentrales Thema im Vorfeld des Referendums. Dabei
ging es damals keineswegs um Flüchtlinge, sondern um Arbeitsmigranten
innerhalb der EU.
Die Idee, der europäische Arbeitsmarkt könnte
weitere Zuwanderung aus den Westbalkanstaaten aufnehmen, ohne dass es zu
weiteren Verwerfungen kommt, ist daher absolut naiv. Das müsste man
eigentlich auch in Berlin wissen. Jens Spahn jedoch weiß es nicht. Der
Gesundheitsminister kam jetzt mit der Idee, Pflegekräfte aus dem Kosovo
anzuwerben.
Die letzte große ökonomische Krise ist noch nicht
überwunden, da ist die nächste Flaute bereits da. Deutschland ist seit
einem Jahr in der Rezession.
Gegen die Fakten helfen auch die Jubelmeldungen über die robuste
deutsche Wirtschaft des Mainstreams nicht – sie sind ein Fake. Der
Import von billigen Arbeitskräften brächte die Löhne weiter unter Druck.
Wie man in so einer Situation auf die Idee kommen kann, Arbeitsmigration anzukurbeln,
wird vermutlich auf ewig Spahns Geheimnis
bleiben.
Es zeigt jedoch, über wie wenig wirtschaftspolitischen
Sachverstand die Parteien im Allgemeinen verfügen.
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Allerdings ist
für die Westbalkanstaaten, wenn es überhaupt einen attraktiven Punkt
für eine zunehmende Annäherung an die EU gibt, der, dass mit der
Arbeitsmigration in die EU-Staaten auch die extrem hohe Arbeitslosigkeit
daheim sinkt, durch den Transfer von Geld nach Hause der Wohlstand
steigt.
Nur den Löhnen in der EU täte das nicht gut, ein weiterer
Rechtsrutsch wäre vorprogrammiert.
Das ist Fakt. Dank Austerität
und Schuldenbremsen kommen die Krisenländer auch ohne Erweiterung der EU
aus ihrem Tief nur schwer und langsam heraus. Insbesondere die
Euro-Länder bleiben im Wachstum zurück.
Italien überlegt inzwischen,
eine Parallelwährung einzuführen, um sich aus der Geiselhaft der
Euro-Richtlinien zu befreien, die dem Land schuldenfinanzierte
Investitionen als Wachstumsimpulse verbieten. Der Streit Italiens mit
der EU-Kommission nimmt immer bizarrere Züge an.
Es geht gar nicht mehr
um die Sache, es geht um Macht. Die EU, das wird dabei überdeutlich,
bedeutet Aufgabe nationaler Souveränität.
Attraktiv
ist die EU maximal für die politischen Eliten der jeweiligen Länder,
die im Ausgleich für das Werben eventuell auf einen lukrativen Posten in
Brüssel hoffen können.
Dass die Staatenunion für diese Form der legalen
Korruption steht, ist kein Geheimnis, wie aktuell die Farce im Hinblick
auf die Benennung des Kommissionspräsidenten zeigt. Das EU-Parlament verkauft
diese aufgehübschte Inszenierung einer Akklamation tatsächlich als Akt
der Demokratie. Aber mit Demokratie hat die EU nun wirklich gar nichts
zu tun.
Generell
tut sich die EU zunehmend schwer mit den Werten, die sie sich selbst
gern auf die Fahne schreibt. Pressefreiheit steht in der EU ebenso unter
Druck, wie Zensur zunimmt. Hätten die Westbalkanländer die Interessen
ihrer Bürger im Sinn, täte ein nüchterner Blick auf den Zustand der EU
gut.
Sie verschiebt aufgrund ihres inneren Zustandes die Aufnahme
von Beitrittsverhandlungen, an deren Ende in allen bisherigen Fällen
ein Beitritt stand. Außer in einem: Die Türkei wurde mehrere Dekaden
hingehalten, die Beitrittsgespräche dann eingefroren. Seitdem wendet
sich das Land mit zunehmender Geschwindigkeit von Brüssel ab und
Russland zu, das als Partner trotz vielfach anderer geopolitischer
Interessen deutlich stabiler und verlässlicher ist.
Und genau
hier liegt das zentrale Moment des Engagements Deutschlands gegenüber
den Westbalkanländern.
Der "Berliner Prozess" dient immer offenkundiger
nur dazu, die inzwischen wesentlich attraktiveren Partner Russland und
China durch Hinhalten und Versprechungen möglichst lange und möglichst
billig in ihrem Einfluss zu begrenzen.
Das ist inzwischen der Hauptzweck
europäischer Außenpolitik:
Eindämmen von Russland und Chinas Aufstieg,
Festhalten am transatlantischen Bündnis, weiter wie bisher.
Mehr hat die
EU und mehr hat Deutschland als geopolitische Vision für das 21
Jahrhundert nicht zu bieten. Der Status quo soll erhalten bleiben.
Damit
führt die EU sich jedoch selbst in die politische Bedeutungslosigkeit,
denn die tektonischen Verschiebungen im geopolitischen Gefüge sind
längst unumkehrbare Realität. Mit ihrer am Status quo orientierten
Politik verzichtet Deutschland darauf, den Umgestaltungsprozess auf dem
eurasischen Kontinent aktiv mitzugestalten.
Russland und China als Alternative
Dabei
wäre es notwendig, den Einfluss Russlands und Chinas einer genaueren
und vor allem unvoreingenommenen Prüfung zu unterziehen.
Die inhaltliche
Substanzlosigkeit der Westbalkankonferenz ist auch ein Zeichen für das
Scheitern der Politik Deutschlands und der EU, sich auf neue
Gegebenheiten auszurichten oder anpassen zu können.
Die EU steht mit
ihrer makroökonomischen Ausrichtung, mit ihrer Marktradikalität nicht
mehr für wirtschaftliche Prosperität und Stabilität. Sie steht nicht für
zunehmenden Wohlstand für alle.
Dafür stehen jetzt andere Regionen
dieser Welt, allen voran China, aber eben auch Russland, dessen
Wirtschaft trotz aller Sanktionen im Vergleich mit der EU
überdurchschnittlich wächst.
Das
Projekt der Neuen Seidenstraße lädt auch die Westbalkanstaaten dazu
ein, an diesem Wachstum und dem damit verbundenen Wohlstand teilzuhaben –
und das ohne Durchgriffe einer transnationalen Bürokratie auf die
nationale Souveränität.
Damit ist eine Anbindung an das Neue
Seidenstraßen-Projekt, an China und Russland deutlich attraktiver als
eine Anbindung an die EU.
So
ist die immer stärkere Ausrichtung der Staaten des Balkan und auch
einer zunehmenden Zahl an Staaten der EU auf die Alternative aus dem
Osten völlig verständlich.
Ohne sich von deutschen Austeritäts-Sadismus
quälen lassen zu müssen, an einer geopolitischen Neuordnung des
eurasischen Kontinents durch Handel und kulturellen Austausch, vor allem
aber durch direkte Investitionen in die Realwirtschaft teilzuhaben, ist
von großer Attraktivität.
Es entstehen Arbeitsplätze dort, wo sie
gebraucht werden, zum Beispiel in Italien, das sich gerade der Neuen
Seidenstraßen-Initiative angeschlossen hat.
Huawei investiert dort drei Milliarden US-Dollar. Die Neue Seidenstraße basiert nicht auf Arbeitsmigration wie das Modell der EU.
Aber
auch der Einfluss Russlands ist sichtbar.
In der sich auf die EU
ausrichtenden Ukraine sind die Ideen der EU bereits installiert. Da geht
es um Marktanpassung und Reformen, um die Einführung der Mechanismen
freier Märkte, um Deregulierung und Rückbau von Subventionen – mit
anderen Worten, es geht steil bergab.
Die Abwanderung ist entsprechend
groß. Auf dem Gebiet, das unser Mainstream "von Russland annektiert"
nennt, gibt es enorme staatliche Investitionen in die Infrastruktur, in
riesige Projekte wie beispielsweise den Bau der Brücke von Kertsch. Die
lokale und regionale Wirtschaft wird gefördert -– die Krim boomt. Es
geht steil bergauf.
Das bleibt auch den Westbalkanländern nicht
verborgen. Die EU wird zum Auslaufmodell.
Sie scheitert an ihren eigenen
Maßstäben und an ihrem ökonomischen Modell. Sie scheitert ganz
grundlegend an sich selbst.
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