http://www.neopresse.com/europa/der-fall-skripal-fuer-den-westen-ein-geschenk-des-himmels/?utm_source=Beitr%C3%A4ge+des+Tages&utm_campaign=bf42fc5f5c-Daily_Latest&utm_medium=email&utm_term=0_232775fc30-bf42fc5f5c-120279501
Inzwischen ist es ein schon ziemlich abgegriffenes Szenario: Wenn
eine Regierung innenpolitisch in Bedrängnis gerät, gar um ihre Macht
fürchten muss, wird geschwind ein äußerer Feind aus dem Hut gezaubert,
um die kritische Öffentlichkeit wieder hinter sich zu bringen.
Selbst
sich gern als klassische Demokratien bezeichnende Staaten sind gegen
solche Versuchung nicht gefeit, wie aktuell der Alarmismus der
britischen Premierministerin Theresa May im Fall Sergej Skripal
anschaulich zeigt.
Denn May steht aufgrund ihres bislang total erfolglosen Brexit-Managements
schon seit einiger Zeit mit dem Rücken zur Wand.
Selbst in der eigenen
Partei wird ihr starrköpfiges Vorgehen kritisiert, und im Parlament
riskiert sie eine Abstimmungsniederlage, die zu Neuwahlen führen könnte.
Deren Ausgang ist alles andere als sicher, weshalb die
Premierministerin eine solche Entwicklung um jeden Preis vermeiden muss.
Offensichtlich scheint ihr ein Konflikt mit Russland dafür ein
geeignetes Mittel.
Sie, die in der Brexit-Problematik vor allem durch
Entscheidungsschwäche auffällt, griff plötzlich zur großen Keule und
antwortete auf den vermutlichen Giftanschlag auf den russischen
Ex-Geheimdienstler Sergej Skripal und seine Tochter mit dem faktischen Abbruch der Beziehungen zu Moskau.
Sie behauptete, der Kampfstoff stamme »eindeutig aus russischer
Produktion«, und der Angriff sei mithin ein »Angriff gegen Bürger
Großbritanniens auf britischem Boden«.
Beweise lieferte sie dafür freilich nicht, und die russische
Forderung, ihr Proben des Kampfstoffs für eigene Analysen zu überlassen,
beschied sie abschlägig.
Das mochte der frühere Bundestagsabgeordnete
der Linken,
Jan van Aken,
der auch einige Zeit als Chemiewaffen-Inspekteur der UNO gearbeitet
hat, nicht kritisieren; zugleich jedoch verwies er darauf, dass Hinweise
auf einen Giftgaseinsatz der Organisation zum Verbot von Chemiewaffen,
der OPCW, vorzulegen sind, allerdings nicht nur als bloße Vermutungen,
sondern »dass die Engländer mehr auf den Tisch legen müssen als nur
dieses ganz simple „wir wissen, die Russen haben das vor 40 Jahren mal
entwickelt; deswegen seid ihr heute schuldig“. Das reicht nicht aus«.
Nach einer solchen Verdachtsanzeige hat die beschuldigte Seite, in
diesem Falle Russland, zehn Tage Zeit sich dazu zu erklären.
Gegen diese völkerrechtlich klar formulierten Grundsätze hat die
britische Seite bislang verstoßen und nichts an die OPCW geliefert.
Stattdessen brach sie eine Kampagne vom Zaun, als ginge es ums Wohl und
Wehe des Königreichs. Sie erklärte bisher weder, wie das Gift auf die
Insel kam, noch wer es dort wie dem Opfer zugeführt hat und stellte
damit den Geheimdiensten ihrer britischen Majestät das denkbar
schlechteste Zeugnis aus.
Sie konnte auch nicht plausibel machen, warum Russland einen
Ex-Spion, der 2004 wegen Zuarbeit für den britischen Dienst MI6 zu 13
Jahren Arbeitslager verurteilt worden war, jedoch 2010 begnadigt wurde,
um gegen russische Spione ausgetauscht zu werden und seitdem unbehelligt
in England lebte, nun plötzlich aus angeblicher Rachsucht »bestraft«
werden sollte. Und das auf dem Wege einer aufwändigen und riskanten
Aktion, die Moskau so oder so nur in ein schlechtes Licht setzen konnte.
Londons argumentative Not treibt inzwischen sogar absurde Blüten:
Putin ginge es bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen um eine
hohe Beteiligung, und diese sei vor allem dadurch zu erreichen, dass man
den Westen maximal gegen Russland aufbringt und so das Land
zusammenschweißt; allerdings weisen Meinungsumfragen seit Wochen
unverändert darauf hin, dass der russische Präsident um seine Wiederwahl
nicht fürchten muss.
Weit weniger absurd erscheinen Hinweise, dass gerade in dem Städtchen
Salisbury das Auftauchen chemischer Kampfstoffe keineswegs ein Zufall
sein muss. Immerhin befindet sich ganz in der Nähe, in
Porton Down, mit dem
Defence Science and Technology Laboratory
die einzige und streng geheime britische Forschungseinrichtung für
Chemiewaffen. Sie dient auch dazu, chemische Kampfstoffe weltweit zu
analysieren, um zum Schutz der eignen Bevölkerung Gegenmittel entwickeln
zu können. Proben der verschiedensten Chemiewaffen sind dort also
Voraussetzung ihrer Tätigkeit.
Deshalb könnte, würde man ähnlich fahrlässig und voreingenommen
vorgehen wie die britische Regierung, gerade hier die Quelle des Gifts
lokalisiert werden, um davon ausgehend leicht Szenarien der
verschiedensten Art zu entwickeln – vom leichtfertigen Umgang mit dem
Wirkstoff bis hin zum organisierten Anschlag aus persönlichen oder gar
politischen Motiven. Solche verschwörungstheoretische Interpretation
verbietet sich freilich für den seriösen Beobachter; es wäre nichts als
eine billige Retourkutsche zu den Vorwürfen der britischen Regierung
gegenüber Russland.
Diese aber werden vom größten Teil der europäischen Medien weitgehend
unkritisch übernommen, auch hierzulande. Keine der sich gern ihrer
besonderen Qualität rühmenden Zeitungen mit ihren bombastischen
Recherche-Netzwerken macht sich die Mühe, die Londoner Behauptungen auf
ihre Plausibilität zu überprüfen oder gar eigene Untersuchungen
anzustellen. Sie beten einfach nach, was sie von Theresa May, ihrem
Kabinett und ihren
Parteigängern
hören und verstärken eher noch den dissonanten Klang. Damit stehen sie –
wie in der Regel auch sonst – dicht bei ihren Regierungen, die sich
flugs auf die britische Seite schlugen; gilt es doch einmal mehr, gegen
Putin in die Schlacht zu ziehen und die bröckelnde Sanktionsfront wieder
zu stabilisieren.
Das erscheint umso wichtiger, als das Scheitern der westlichen
Strategie in Syrien immer offensichtlicher wird.
Assad ist im Bündnis
mit Russland dabei, die Kontrolle über sein Land zurückzugewinnen und
dadurch den Krieg allmählich zu beenden. Nach Aleppo, in das inzwischen
immer mehr der früher geflüchteten Bewohner zurückkehren, könnte bald
auch Ost-Ghuta befriedet werden, auch wenn derzeit dort noch opferreiche
Kämpfe toben.
Krieg führt neben Assad und Russland auf der einen sowie den
versprengten Resten des IS auf der anderen Seite jetzt vor allem das
NATO-Land Türkei in Syrien, doch dazu ist von dessen Verbündeten kein
Wort der Kritik zu hören.
Im Gegenteil, die Bundesrepublik liefert dem
völkerrechtswidrigen Aggressor noch die Waffen. Setzt sich diese
Entwicklung fort, verliert der syrische Kriegsherd sukzessive seine
propagandistische Bedeutung für den Westen.
Ähnliches gilt für die Ukraine, bei der sich immer deutlicher zeigt,
dass das Minsker Abkommen vor allem durch Kiews Unwillen, dessen
Festlegungen zu erfüllen, nicht vorankommt.
Moskau betrachtet das als
willkommene Gelegenheit, nun seinerseits hartleibig zu bleiben und
darauf zu warten, dass die Kritik an der Aufrechterhaltung der
Sanktionen gegen Moskau, vor allem aus der Wirtschaft, weiter zunimmt.
Vor diesem Hintergrund erscheint der Fall Skripal als geeignetes
Mittel, ihn trotz oder gerade wegen des bisherigen Fehlens belastbarer
Informationen über seinen Ablauf und seine Hintergründe ohne Zögern zu
einer neuen antirussischen Kampagne zu nutzen. Fast hat man den
Eindruck, als betrachte man ihn in London, bei der NATO und anderswo als
ein Geschenk des Himmels. Einmal mehr beweist der Westen damit, dass in
seinem sogenannten Wertesystem offensichtlich über allem anderen steht,
die Feindschaft gegen Russland immer wieder neu zu schüren.