Samstag, 7. Oktober 2023

 

 

 NZZ

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Nur wer fällt, hat richtig gelebt – Russlands Krieg gegen die Ukraine läuft immer mehr auf eine Säuberung der eigenen Gesellschaft hinaus

Eigentlich müssten Menschenleben im demografisch schrumpfenden Russland wertvolles «Humankapital» sein. Stattdessen wird im Krieg gegen die Ukraine der Tod junger Männer ideologisch verklärt und materiell belohnt. Fast scheint man froh, gewisse Leute loszuwerden.

Sonja Margolina

Ein Krieg ohne ausreichend große Reserve an 19-jährigen Männern ist offenbar doch durchführbar. – Bestattung russischer Soldaten in Luhansk.

 
 
Alexander Ermochenko / Reuters

Kriege werden in der Regel nur von kinderreichen Ländern geführt. Davon war der angesehene Genozid-Forscher und Kriegsdemograf Gunnar Heinsohn (1943–2023), der den sogenannten Kriegsindex einführte, überzeugt. Als Kriegsindex definierte er die Relation zwischen der Zahl junger Männer im Alter von 15 bis 19 Jahren und der Zahl der 55- bis 59-Jährigen in der jeweiligen Gesellschaft.

Der Überschuss an «unversorgten» jungen Männern («youth bulge»), die keine Stelle auf dem Arbeitsmarkt oder sonst eine sinnvolle Beschäftigung fänden, so Heinsohn, mache ihre Rekrutierung durch Terrororganisationen, lokale Armeen, bewaffnete Banden wahrscheinlicher. Aber auch die Bereitschaft, auszuwandern, nehme zu. In asiatischen und afrikanischen Staaten mit hoher Fertilität sei der Kriegsindex hoch und erreiche den Wert von 4 bis 7. Zwischen 1950 und 2019 verzeichneten beispielsweise Mali, Niger und Burkina Faso einen Bevölkerungsanstieg von 10 auf über 60 Millionen Einwohner.

Würde die deutsche Bevölkerung im gleichen Tempo wachsen, schrieb Heinsohn in der «Welt», hätte sie am Anfang des 21. Jahrhunderts 410 Millionen erreichen müssen. Dabei könnte bei knapp 70 Millionen deutschen jungen Männern im besten Kampfes alter zwischen 15 und 29 Jahren selbst Europas Frieden ins Wanken geraten. Ein Krieg ohne eine ausreichend große Reserve an 19-jährigen Männern wäre nicht durchführbar.

Umso paradoxer mutete der Überfall Russlands auf die Ukraine an. Denn die russische Bevölkerung ist durchschnittlich 42 Jahre alt, der Kriegsindex unterscheidet sich im Wert nicht von dem anderer europäischer Staaten und liegt unter 1,0.

Krieg als Chance zum sozialen Aufstieg

«Noch nie haben zwei Nationen mit einem Durchschnittsalter von über 40 Jahren Krieg gegeneinander geführt», schrieb Heinsohn, nachdem in Russland im September 2022 eine Teilmobilisierung ausgerufen worden war. «Noch nie haben zwei Nationen mit einem Kriegsindex von 0,7 miteinander die Waffen gekreuzt.» Die Ursache für diese scheinbare Anomalie führte Heinsohn auf Putins Fehleinschätzung zurück. Mit seinem Angriff auf die Ukraine hatte er einen verlustarmen Blitzkrieg geplant. Das Projekt war schmählich gescheitert.

Die entschlossene Selbstverteidigung der «alternden Ukraine» wiederum sei mit der Angst vor drohender Ausrottung, einer Wiederholung von Stalins Hunger-Völkermord Holodomor der Jahre 1932/33, zu erklären, so Heinsohn. Krieg kann also auch von einer alternden Nation geführt werden, wenn ihr Überleben bedroht ist.

Jedenfalls scheint der niedrige Kriegsindex kein Hindernis für die neokoloniale russische Invasion gewesen zu sein. Auch eineinhalb Jahre nach dem Einfall in die Ukraine und ungeachtet der geschätzten Verluste von 200 000 bis 250 000 Mann bleibt die Bereitschaft des Kremls ungebrochen, junge und nicht mehr so junge Männer in den Fleischwolf des Stellungskrieges im Donbass zu werfen.

Die Vermutung liegt nahe, dass der rücksichtslose Verschleiß von Männern, die als Arbeitskräfte wie Väter ausfallen, seine Ursache nicht allein im blinden Revanchismus der welthistorisch gekränkten Imperial macht und einer Fehleinschätzung der ukrainischen Wehrbereitschaft hat. Es geht auch um die Besonderheiten der russischen Seinsweise, von der das Alltagsleben eines bedeutenden Teils des Landes, vor allem außerhalb der Metropolen, geprägt ist. Im Ausnahmezustand des Krieges treten deren Wesenszüge deutlicher als sonst hervor.

Es ist längst ein offenes Geheimnis, dass die Kontraktsoldaten für den russischen Angriffskrieg überwiegend in wirtschaftlich vernachlässigten Randregionen und autonomen Republiken wie Burjatien und Dagestan rekrutiert werden. Die Millionenstädte bleiben von der Rekrutierung derweil verschont. Prozentual wurden auf dem Land zehnmal so viele Kontraktsoldaten angeworben wie in Moskau und St. Petersburg, und dieses Missverhältnis beruht auf einer bewussten Strategie.

Anders als in den Großstädten mit ihren vielfältigen Arbeits- und Kulturangeboten, mit ihrem höheren Lebensstandard, ihrem Bildungsniveau und ihrem Protestpotenzial haben junge Männer in den Tausende von Kilometern entfernt im Abseits verstreuten Kleinstädten und Siedlungen oft nur die Wahl, sich beim Wehrdienst zu verpflichten, wenn sie nicht als Wachpersonal in den Straflagern anheuern oder gleich selbst kriminell werden wollen.

Suff, Drogenabhängigkeit, häusliche Gewalt und Kriminalität prägen hier den Alltag vieler Familien. Mittellos, oft hoch verschuldet laufen viele junge Leute heute Gefahr, ihre ganze Habe zu verlieren. Da die russischen ethnischen Minderheiten im Durchschnitt weit kinderreicher sind als die Russen, bekommen sie die Armut besonders stark zu spüren. Zugleich können mehr Söhne an die Armee abgegeben werden.

Nach dem Überfall auf die Ukraine machte der russische Staat den Ärmsten der Armen ein Angebot, zu dem sie nur schwer Nein sagen konnten. Verpflichtet sich ein junger Mann aus diesen desolaten Verhältnissen für ein halbes Jahr beim Militär, erhält er einen monatlichen Sold von 200 000 Rubel, was rund 2000 Dollar entspricht. Das ist das Dreizehnfache des ortsüblichen Gehalts.

Umwertung aller Werte

Für ein gefallenes Familienmitglied werden 5 Millionen Rubel – also 50 000 Dollar – fällig. Für die verwaiste Familie bedeutet dies den Aufstieg in eine höhere soziale Schicht. Sie kann ihre Schulden abbezahlen und eine Wohnung in einer größeren Stadt erwerben. Hinzu kommen Sonderleistungen wie erhöhte Invalidenrenten, Studienquoten für Kriegsteilnehmer und deren Kinder.

Derweil werden Schulen und Straßen, wie nach dem Großen Vaterländischen Krieg, nach gefallenen «Helden» benannt, auch wenn diese eine kriminelle Karriere hinter sich hatten und im Verdacht stehen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt zu haben. All diese Fördermaßnahmen ermöglichen es vielen Erniedrigten und Beleidigten, in eine vom Staat privilegierte und im Volk respektierte Veteranengruppe aufzusteigen.

Mütter, so glaubte Gunnar Heinsohn, würden es nicht zulassen, den einzigen Nachkommen im Krieg zu verlieren, denn damit endete die Familienlinie. Doch er verkannte die konkrete Lage in Russland. In Anbetracht der in Aussicht gestellten materiellen Verheißungen scheint der Tod des einzigen Sohnes (oder des Ehemanns oder des Vaters) hier durchaus erträglich. Davon abgesehen sind russische Männer nicht selten Taugenichtse, die Frauen und Kindern das Leben zur Hölle machen.

In einem Land, in dem pro Jahr 14 000 Frauen an häuslicher Gewalt sterben, kann es durchaus sein, dass verzweifelte Mütter, Ehefrauen und Freundinnen ihren Peinigern den Tod wünschen. Was für eine Befreiung, wenn der gewalttätige Sohn oder der versoffene Ehemann ihnen nicht mehr die Luft zum Atmen nimmt und stattdessen postum zum Helden erklärt wird. Eigentlich müssten Menschenleben im demografisch schrumpfenden Russland wertvolles «Humankapital» darstellen, doch stattdessen wird im Krieg paradoxerweise der Tod junger Männer ideologisch verklärt und materiell belohnt.

Ebendiese Ambivalenz brachte Putin beim Treffen mit handverlesenen Soldatenmüttern am 25. November 2022 zum Ausdruck, als er Nina Pschetschkina, einer Aktivistin des Repräsentantenrats der Luhansker Volksrepublik, deren Sohn bereits 2019 im Luhansker Gebiet gefallen war, Folgendes sagte: «Wir alle werden irgendwann diese Welt verlassen. Das ist unvermeidlich. Die Frage ist, wie wir gelebt haben. Bei manchen ist nicht klar, ob sie das Richtige getan haben. Und woran verenden sie? An Wodka oder sonst etwas. (. . .) Doch Ihr [im Kampf gefallener] Sohn hat wahrhaft gelebt. Und er hat sein Ziel erreicht. Was bedeutet, dass er nicht umsonst gestorben ist.»

Nur der Tod gibt dem Leben Sinn

Das Schlimmste an Putins Würdigung des gefallenen Soldaten ist nicht die Verachtung und Geringschätzung des eigenen Volks, eine Haltung, die unwillkürlich Dostojewskis «Dämonen» in Erinnerung ruft, sondern dass eine solche Ansicht vielen Russen nicht ganz fremd ist. Urbi et orbi wird das gewöhnliche Dasein eines einfachen Mannes vom Präsidenten für wertlos erklärt. Nur der Tod im Krieg gegen die Feinde Russlands verleiht seiner Existenz einen höheren Sinn.

Das Fördersystem für Kontraktsoldaten führt der Bevölkerung auch vor Augen, dass das Risiko, im Krieg getötet oder verkrüppelt zu werden, durch materielle Vorteile und die Möglichkeit eines ungeahnten sozialen Aufstiegs aufgewogen wird. Die Sicherheitsinteressen des Kremls werden so kurzgeschlossen mit den Interessen der Kriegsgewinnler. Just nach dem russischen Sprichwort «Des einen Tod ist des anderen Brot».

In dem Land mit einer der höchsten Einkommensungleichheiten der Welt scheint ein Experiment im Gange zu sein, das, wird der Krieg noch lange dauern, die soziale Struktur der Gesellschaft nachhaltig verändern kann. Ähnlich wie nach der Oktoberrevolution und dem Bürgerkrieg nach 1918 verlassen gebildete Ober- und Mittelschichten – Wissenschafter von internationalem Rang, Professoren von Eliteschulen, IT-Spezialisten und Ärzte, Künstler und Intellektuelle – Russland. Ihre vakant gewordenen Positionen auf verschiedensten gesellschaftlichen Feldern werden von systemtreuen Aufsteigern besetzt.

Im Bolschewismus wurde die Ausradierung vermögender Schichten mit dem unvermeidlichen Klassenkampf und der anhebenden Diktatur des Proletariats legitimiert. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der möglicherweise auf Permanenz gestellte Krieg gegen die Ukraine in Russland selber immer mehr auf eine soziale Säuberung der eigenen Gesellschaft hinauslaufen wird.

 

 

Sonja Margolina, 1951 in Moskau geboren, lebt als Publizistin und Buchautorin in Berlin.

 

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