Vor sechs Jahren mischte sich Deutschland aktiv in die
ukrainische Politik ein. Die Folge war der Staatsstreich im Februar
2014, der Ukraine-Konflikt und umfangreiche Sanktionen. Und im Dezember
2013 dokumentierte der Spiegel den Coup. Eine Retrospektive.
von Wladislaw Sankin
"Deutschland
gilt bei den diplomatischen Vermittlungen im Russland-Ukraine-Konflikt
als führender Akteur." – "Deutschland ist in den Prozess zur Lösung des
Konflikts involviert, vor allem durch seine enormen diplomatischen
Bemühungen." – "Deutsche Politiker engagierten sich in Initiativen für
Konfliktlösungen." – "Deutsche Kanzlerin Angela Merkel bemüht sich um
die Lösung des Konflikts." Und so weiter.
Mit
solchen Sätzen beschrieben die Leitmedien in den letzten Jahren die
deutsche Rolle im sogenannten Ukraine-Konflikt, und das machen sie noch
immer so. Dieser Erzählung liegt eine Chronologie zugrunde, der zufolge
der Konflikt mit der sogenannten Krim-Annexion in März 2014 und der
Unterstützung der "Separatisten" im Osten der Ukraine durch Russland
beginnt. Mit diesem "Beginn der Zeitrechnung" ist die Frage nach dem
Schuldigen bereits klar beantwortet.
Ein Blick in dieselben Medien zu Zeiten der
Proteste
auf dem Kiewer Maidan Nesaleschnosti – also dem Platz der
Unabhängigkeit – lässt jedoch große Zweifel an diesem Narrativ
aufkommen.
Die Proteste fanden von Ende November 2013 bis Ende Februar
2014 statt und endeten mit der Flucht des Präsidenten Wiktor
Janukowitsch aus dem Land und der Machtübernahme durch die Opposition.
Die Proteste wurden zunehmend von Gewalt und Provokationen, enormer
medialer Unterstützung und diplomatischem Druck aus dem Westen auf die
Regierung der Ukraine begleitet.
Kurz vor Beginn der Proteste
sollten die langjährigen Verhandlungen um das EU-Assoziierungsabkommen
mit der Ukraine in die Endrunde gehen und mit der Unterschrift des
ukrainischen Präsidenten zum feierlichen Abschluss gebracht werden. Am
28. November 2013 hatte dieser jedoch beim sogenannten Summit der
Östlichen Partnerschaft der EU seine Unterschrift
verweigert.
Russland hatte auf Präsident Janukowitsch Druck ausgeübt und dem
finanziell angeschlagenen Land Milliardenkredite angeboten, und so
wollte er mit der EU weiterverhandeln. Die deutsche Politik ging in den
Kampfmodus über, und weil der Ausgang dieses Spiels – dieses Gezerre
zwischen Deutschland und EU einerseits und Russland und Eurasischer
Wirtschaftsunion EAWU andererseits – noch nicht sicher war, redete man
nun "Klartext".
Von wegen "Spiel" … Mit ebendiesem Wort beschrieb
Der Spiegel in einer
Dezember-Ausgabe
vor sechs Jahren das damalige politische Geschehen in der Ukraine,
lange vor einer angeblichen russischen "Aggression": "Es geht um
Geopolitik, um das 'Grand Design', wie es die Experten gern nennen. Und
es geht – ob die Kanzlerin nun will oder nicht – um Angela Merkel und
Wladimir Putin ganz persönlich."
Von den angeblichen "Lösungen",
"Vermittlungen" und "Bemühungen" ist noch rein gar nichts zu lesen.
Damals jedenfalls nicht.
Die stets handverlesenen
Spiegel-Journalisten
mit besten Kontakten in Regierungskreise in Berlin und Brüssel
lieferten mit viel Insiderwissen damals einen dankenswert tiefen
Einblick in den engen Zirkel, in dem strategische Ziele beraten und
politische Entscheidungen getroffen wurden. Heute ist dieser
Spiegel-Artikel ein wertvolles Zeitdokument:
Die
Geschichte ist noch nicht zu Ende. Und die Kanzlerin will vor der
nächsten Runde eine neue Figur ins Spiel bringen: Vitali Klitschko. Der
zwei Meter große Profiboxer soll zum proeuropäischen Gegner des
russlandorientierten Janukowitsch aufgebaut werden – und am Ende das
Abkommen mit den Europäern doch noch unterschreiben", schreibt der Spiegel.
So, so: Aufbau eines Politikers im Ausland zum oppositionellen Führer. Der
Spiegel
hatte wohl keine andere Wahl, als die Dinge "ein bisschen" beim Namen
zu nennen? Denn schließlich sollte dieser "Politiker" doch bald
Präsidentschaftskandidat werden:
'Regime Change' wäre
als Begriff wohl zu hoch gegriffen, aber ein bisschen geht es doch
darum: Merkels CDU und die europäische konservative Parteienfamilie EVP
haben Klitschko auserkoren, das ukrainische Nein von innen aufzuweichen.
Er soll die Opposition einen und anführen, auf der Straße, im Parlament
und schließlich bei der Präsidentenwahl 2015. 'Klitschko ist unser
Mann', heißt es in hohen EVP-Kreisen. 'Der hat eine klar europäische
Agenda' – und Merkel noch eine Rechnung offen mit Putin.
"Ein
bisschen" Regime-Change also. Wo es aber besser passt, sind – wie
üblich – Euphemismen schnell zur Hand – wie etwa "Verantwortung
übernehmen": "Die CDU-nahe Parteistiftung (
Konrad-Adenauer-Stiftung – Anm. der Red.)
bereitet seit einiger Zeit ukrainische Oppositionspolitiker im Rahmen
eines 'Dialog-Programms' auf die Übernahme von Verantwortung vor." Was
klingt wohl netter: "Machtübernahme" oder die "Übernahme von
Verantwortung"?
Aus dem gleichen Grund lesen wir beim
Spiegel, dass die ultranationalistische und blutbefleckte
Nazi-Kollaborateure
verehrende Partei "Swoboda" lediglich eine "rechtsnationale
Freiheitspartei" sei. Sie ist schließlich Teil der Opposition, die
Klitschko vereinen soll, und muss daher im deutschen Sprachgebrauch
besser dargestellt werden. Aber es geht noch weiter. Detailliert
beschreibt das Magazin das weitere geplante Vorgehen der (unter anderem)
von Merkel in der Ukraine an die Macht gebrachten Politiker:
Die
Klitschko-Unterstützer in EVP und Bundesregierung hoffen darauf, dass
spätestens 2015 bei der Präsidentenwahl nur ein gemeinsamer Kandidat
gegen Amtsinhaber Janukowitsch antritt – und gewinnt. Dann hätte
Kanzlerin Merkel ihr Etappenziel erreicht: eine proeuropäische Führung
der Ukraine. Das eigentliche Rückspiel könnte beginnen, das um eine
Neuordnung der Beziehungen der Europäischen Union mit Osteuropa. Das
gegen Wladimir Putin.
Eine Neuordnung, bei der der
geopolitische Rivale aus der eigenen Region herausgedrängt wird.
Interesse an seinem Einfluss in der heimatlichen Region begründet er
zwar mit der wirtschaftlichen, technisch-wissenschaftlichen, kulturellen
und humanitären Verflechtung, die über Jahrhunderte gewachsen ist. Man
darf doch Interessen haben, oder nicht?
Nun ja: Es kommt darauf an. Bei
Wladimir Putin sind solcherlei Interessen nicht legitim, meinte damals
schon der
Spiegel. Denn diese seien aus Komplexen und
Kränkungen gewachsen: Durch eine "Mischung aus Selbstzweifel, Sehnsucht
nach gewesener Größe und verletztem Stolz".
Das ist wichtig. Denn
hätte Russland gar "legitime" Interessen gehabt, müsste man die EU und
Angela Merkel fragen, warum die Probleme mit dem
EU-Assoziierungsabkommen nicht gleich von Anbeginn gemeinsam zu lösen
waren. "Warum Russland bei weiteren Verhandlungen nicht mit an den Tisch
holen?", fragt schließlich damals sogar der
Spiegel selbst – noch.
Dreier-Gespräche lehnen wir ab", wird Merkel darauf aus kleinem Kreis zitiert.
Spätestens
hier – trotz aller Euphemismen – sollte eigentlich klar sein: Bei der
deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel haben wir es mit einer
knallharten Machtpolitikerin zu tun, die bei der Durchsetzung ihrer
Ziele bereit ist, auch über Leichen zu gehen. Und sei es zunächst "nur"
in der Ukraine. Denn es wird im späteren Verlauf des Konflikts, der sich
in einen Bürgerkrieg verwandeln wird, sehr viele solcher Leichen geben,
Tausende
von unschuldigen Opfern. Und das war abzusehen, denn viele Experten
haben davor gewarnt. Aber dazu müssen wir später noch kommen.
In hellsichtiger Vorahnung dessen, schrieb im Dezember 2013 doch tatsächlich der
Spiegel,
es sei für Angela Merkel eigentlich typisch, die
"Entweder-oder"-Zwickmühle für die Ukraine aufzulösen. Nur Putin ist da
noch, der "den Zerfall der Sowjetunion (…) am liebsten rückgängig
machen" würde.
In einem Artikel im Februar 2014 wird dann schon
Außenminister Frank-Walter Steinmeier
zitiert,
als er auf die Kritik Moskaus an der Einmischung der EU antwortet, man
solle doch (in Moskau?) von der Vorstellung Abstand nehmen, "dass die
Ukraine Teil eines geopolitischen Schachspiels ist".
Erst wenige Wochen zuvor schrieb der
Spiegel
jedoch selbst noch – mit viel Vorfreude auf den weiteren Verlauf –, der
Kampf um die Ukraine sei ein Spiel. Oder etwa nicht? Abgesehen von
wenigen
Ausnahmen,
hinterfragte niemand den damaligen deutschen Außenminister.
Kurz vor
dem endgültigen Sieg der "Pro-Europäer" in Kiew, als ihre Machtübernahme
schon zum Greifen nah war, wurden die Propaganda-Weichen umgestellt –
von nun an gilt: Russland provoziert, Deutschland vermittelt, die
Ukraine ist das Opfer.
Es ist allerdings doch nicht ganz so
gekommen, wie Angela Merkel, EVP und CDU es wollten. Vitali Klitschko
wurde zunächst "nur" Bürgermeister von Kiew, bei den Wahlen in Mai 2014
gewann der mit dem größeren Geldsack: Petro Poroschenko.
Doch auch mit
ihm schloss Merkel bald
Freundschaft – trotz
Krieg, Korruption, politischer
Morde und
Unterdrückung,
denn er hat schließlich all das getan, was Angela Merkel von der
Ukraine eben wollte – er hat das Land in eine bedingungslose und
indiskutable Anbindung an und – klarer gesagt – Abhängigkeit von
Deutschland, der EU und den USA geführt. Als es in der Ostukraine zu
gären begann, konnte Deutschland aus einer sehr bequemen Position heraus
zu "vermitteln" beginnen.
Die
Wahrheit der Geschichte liegt folglich ganz woanders. Deutschland ist
kein "Vermittler", sondern ein Akteur, der seine unselige Rolle in der
Genese des Konflikts verschleiern muss. Kein Geringerer als ein seriöser
Berliner Rechtswissenschaftler, Herwig Roggemann, kritisiert mit
Bezugnahme auf eine Reihe weiterer Experten in seiner Analyse in seinem
Buch "Ukraine und Russland-Politik" sowohl Deutschland als auch die EU
scharf:
Eine, wenn nicht die eigentliche
Konfliktursache ist die seit zwei Jahrzehnten betriebene
Osterweiterungpolitik der EU und NATO ohne angemessene Einbindung
Russlands und ohne Berücksichtigung seiner Sicherheits- und
wirtschaftlichen Interessen.
Diese Politik sei
aggressiv, und die Länder der sogenannten Östlichen Partnerschaft seien
dadurch unnötig einer Zerreißprobe ausgesetzt. Das Problem der
ukrainischen
"historischen Ambivalenz"
zwischen Ost- und Westbindung habe nun wegen einer kompromisslosen und
übereilten Westorientierung – vorangetrieben durch die Maidan-Akteure,
die EU und die USA – eine staats- und verfassungsrechtliche Dimension
erhalten. Damit deutet Roggemann auch auf die Abspaltung der Krim und
den Krieg in der Ostukraine hin. Die Fortsetzung dieser Politik sei eine
weiterhin "friedensgefährdende Fehlentwicklung".
Das Buch hat der
Experte bereits im Jahr 2015 veröffentlicht. Eine grundsätzliche
Änderung der Politik hat seitdem nicht stattgefunden, im Gegenteil: Bis
an die russische Grenze rückte die NATO mit zusätzlichem Militärgerät
vor, die militärischen Spannungen haben zugenommen, der
Informationskrieg lässt keineswegs nach, der Minsker Prozess stockt. Der
Normandie-Gipfel in Paris fand zwar vor Kurzem wieder statt, legte aber
nun offensichtliche
Widersprüche der Minsker Vereinbarung und der politischen Regulierung offen.
Antirussische
Sanktionen, begründet mit der politisch einseitigen Auslegung der
Konfliktursache anstelle des Völkerrechts – denn es gibt eben keinen
entsprechenden UN-Beschluss –, werden weiterhin routinemäßig verlängert.
Ihre mehrheitliche
Ablehnung
in der Bevölkerung und durch die Wirtschaft beeindruckt die
Merkel-Regierung keineswegs. Denn sie kann sich im Zweifelsfall immer
auf eine willfährige statt kritisch-investigative Presse verlassen.
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