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Von Russland bedroht, im Inneren von Rechten zermürbt – Deutschland und Europa befinden sich in keinem guten Zustand. Droht so etwas wie eine Revolution? Historiker Christopher Clark rät zur Vorsicht.
Russland greift nach der Ukraine, China demonstriert unverhohlen seine Macht: Europa müsste nun einig und stark sein. Doch der Kontinent taumelt, nahezu überall sind rechte Populisten und Radikale auf dem Vormarsch – sehr zur Freude von Wladimir Putin. Wenn sie, wie in Italien, nicht bereits regieren. Herrscht ein Hauch von Revolution in Europa?
Christopher Clark, der zu den führenden Historikern unserer Zeit zählt, mahnt im t-online-Interview zur Vorsicht. Clark weiß, wovon er spricht: Gerade hat er mit "Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt" ein Buch über die europäischen Revolutionen vor 150 Jahren veröffentlicht. Weshalb Clark die Lage in Europa heute als dramatisch einschätzt, welchen Fehler er den Parteien der politischen Mitte attestiert und auf welche Weise Putin uns einen Gefallen getan hat, erklärt der australische Historiker im Interview.
t-online: Professor Clark, immer mehr Europäer hegen Misstrauen gegenüber der Demokratie und verachten deren Repräsentanten. Sind das schon Vorboten einer neuen Revolution?
Christopher Clark: Die Lage spitzt sich tatsächlich dramatisch zu. Denn ein entscheidender Faktor für eine stabile Demokratie ist im Schwinden begriffen: der Respekt. Ich meine nicht die servile Unterwürfigkeit von Untertanen einer willkürlichen Macht gegenüber; ich meine den Respekt der Staatsbürger vor den rechtsstaatlichen Organen, vor den Parlamenten und den gewählten Volksvertretern, vor den Institutionen des öffentlichen Lebens. Auf diesem Respekt basiert die Stabilität der rechtsstaatlichen Demokratien.
Warum erodiert dieser Respekt gegenüber dem Rechtsstaat, während die radikale Rechte breiten Zulauf erhält?
Lassen Sie es mich mit einer Anekdote erklären: Für Dreharbeiten war ich einmal in Dresden und schaute mir eine Demonstration der islamfeindlichen Organisation Pegida an. Sobald die Leute unsere Kamera sahen, schallte es uns entgegen: "Lügenpresse, Lügenpresse!" Ich fragte einen Teilnehmer, warum er dort mitlief. Seine Antwort: "Weil sich Krankenschwestern und Polizisten das Leben in der Innenstadt nicht mehr leisten können!" Das schien mir sicher ein vernünftiger Grund, um zu protestieren. Aber als ich den Mann fragte, was das mit dem Wort "Islamisierung" auf den Pegida-Transparenten zu tun hatte, sagte er einfach: "Gar nichts!".
Christopher Clark, geboren 1960, lehrt Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine's College in Cambridge. Sein 2013 erschienenes Buch "Die Schlafwandler" über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs avancierte zum internationalen Bestseller. 2015 schlug Elizabeth II. den Historiker zum Ritter. Gerade ist Clarks neues Buch erschienen: "Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt".
Beunruhigend.
Erschreckend! Aufwiegler, die gegen irgendetwas hetzen, gibt es immer – ob es Muslime sind oder Politiker oder Flüchtlinge. Strömen diesen Demagogen jedoch Menschen zu, die zum Teil aus nachvollziehbaren Gründen frustriert, verunsichert und zornig sind, dann wird es richtig gefährlich. Denn Enthemmung ist ein Nebeneffekt des Verschwindens von Respekt.
2020 versuchte ein Mob von Corona-Leugnern das Reichstagsgebäude in Berlin zu stürmen, ein Jahr später besetzten Anhänger von Donald Trump das Kapitol in Washington. Meinen Sie das mit Enthemmung?
Das sind besonders auffällige Beispiele. Aber in nahezu allen westlichen Ländern lässt sich beobachten, dass der Gehorsam vor den demokratischen Institutionen schwindet und die Enthemmung wächst. Es herrscht immer weniger Respekt vor den demokratischen Errungenschaften, die unsere Vorfahren entwickelt und erstritten haben.
Die Revolutionen 1848/49 gelten als Meilenstein in der Entwicklung der europäischen und der deutschen Demokratie. Welche Lehren können wir heute aus der Vergangenheit ziehen?
Es gibt durchaus Parallelen zwischen 1848/49 und unserer Gegenwart. Nehmen wir die Auseinandersetzungen um soziale Fragen: 1848/1849 kam es in Deutschland in den Vereinen und Parlamenten und auf den Straßen zu heftigen Auseinandersetzungen: einerseits die Linken, die soziale Forderungen stellten, andererseits die Liberalen, die hauptsächlich strukturelle und politische Veränderungen verlangten – etwa die Pressefreiheit, die Öffnung der Märkte und die Etablierung regulärer Wahlen. Diese Gegensätze wurden bis zum Ende der Revolutionen 1849 nicht überwunden.
Der Konflikt wurde von Zeitgenossen als Streit zwischen "Pressefreiheit" und "Fressefreiheit" bespöttelt.
"Was nützt uns die Pressefreiheit, wenn die Menschen wortwörtlich nichts zu fressen haben?" – diese Frage stellten die radikalen Linken. Nicht unberechtigt, denn in Zeiten von bitterer Armut und quälendem Hunger hatten die Menschen tatsächlich andere Prioritäten als die von den Liberalen angestrebten politischen Freiheiten. Diese Schwierigkeiten der Diskussion, der Kompromissfindung zwischen dem Sozialen und Politischen 1848/49, wirken wie aus dem historischen Lehrbuch entsprungen. Wir sollten daraus lernen.
Wäre dies der einzige Konflikt unter den Abgeordneten der Paulskirche gewesen, hätte das damalige demokratische Experiment mehr Chancen auf Erfolg gehabt. Tatsächlich führte aber auch der Nationalismus zu heftigem Streit.
Die Frankfurter Paulskirche war ein faszinierendes Organ: ein Parlament für einen Nationalstaat, der überhaupt nicht existierte! Das war ein Parlament im Konjunktiv. Man tat einfach so, als gäbe es ein Deutschland – dabei gab es ja noch die vielen souveränen Einzelstaaten des Deutschen Bundes. Besonders die Nationalitätenfrage in Bezug auf die polnische Minderheit in Preußen geriet zu einem zentralen Streitpunkt. Der Revolutionär Robert Blum argumentierte, dass man den Polen kaum ihr Vaterland verwehren könne, wenn die Deutschen gerade selbst das ihrige anstrebten. Viele linke und liberale Zeitgenossen wollten aber nichts davon hören.
Warum halten Sie es für so wichtig, dass wir die damaligen Auseinandersetzungen heute noch kennen?
Weil wir auch heute noch Schwierigkeiten haben, gemeinsame Vorstellungen von so komplexen Kategorien wie Nation, Migration und Integration zu entwickeln. Sie haben ein ungeheuer destruktives Potenzial, wenn sie nicht konstruktiv gelöst werden. 1848/49 sind die Vertreter der unterschiedlichen Strömungen nicht weitergekommen, weil sie nicht aufeinander gehört haben. Wir sollten es heute besser machen.