Auf in den Frieden....
Gastbeitrag von Meinrad Müller
Im Jahre 1971, 26 Jahre nach dem verheerenden Krieg, wurden 36 Jugendliche aus dem bayerischen Schwaben, Mitglieder der Katholischen Landjugendbewegung (KLJB) ausgewählt, um an einer Frankreichreise teilzunehmen. Niemand von uns war zuvor jemals im Ausland, der Pauschaltourismus mit Flug, Hotel und All-you-can-eat existierte noch nicht. Unsere Reise sollte mit dem Omnibus in ein kleines Dorf in der Bretagne führen. Ziel des Sponsors, dem Landwirtschaftsministerium, war wohl, dass wir den dortigen Ackerbau und die Viehzucht kennenlernen sollten. Aber es kam ganz anders.
Adenauer und Schumann
Die Aussöhnung der beiden Völker nach Millionen von Toten und Verwundeten der beiden Weltkriege schien eine nahezu unlösbare Aufgabe zu sein. Doch Bundeskanzler Adenauer und dem französische Außenminister Schumann war es nach langen Verhandlungen 1950 gelungen, eine Versöhnungsinitiative, den Schumann-Plan bekannt zugeben. Enthalten darin war auch die Aufforderung, die Jugendlichen beider Nationen mögen sich kennenlernen. Und wir 16-18-Jährigen aus dem damaligen Landkreis Illertissen durften auf diese Reise.
Unser Reiseführer war ein älterer Pater des Gymnasiums „Kolleg der Schulbrüder“, der als einziger Französisch sprach. Zum Pflichtprogramm zählte auch der Besuch der Gedenkstätte in Verdun. 200.000 (zweihunderttausend) weiße Kreuze auf einem kaum zu überblickenden Friedhof ließen uns verstummen. Das Gruseligste jedoch war das Beinhaus, in welchem Knochen von schätzungsweise 130.000 nicht identifizierbaren Toten von französischer und deutscher Seite gestapelt waren. Durch Glasfenster konnten wir einen Blick auf die gestapelten Gebeine und Schädel der Soldaten werfen – ein schauerlicher und bewegender Anblick. Jeder von uns dachte nie wieder Krieg.
Asterix und Obelix und deren Nachfahren
Nach einer langen Fahrt, zu der auch die Besichtigung diverser Kathedralen zählte, erreichen wir das unscheinbare Dörfchen Carnoët. Wir, allesamt mit historischer französischer Baukunst durch das Lesen der Hefte von Asterix und Obelix vertraut, staunten, denn die Häuser waren tatsächlich aus riesigen Steinquadern errichtet, nur die Strohdächer waren durch Dachziegel ersetzt.
Nicht »Bienvenue« stand auf dem zehn Meter langen und ein Meter hohen, über die Straße gespannten Transparent, sondern »Willkommen«. Wenn die Erinnerung nicht trügt, waren wir alle tief gerührt. Ein Omnibus mit 36 Jugendlichen wurde willkommen geheißen und zwar mitten auf dem Marktplatz. Dieser war bevölkert mit den Ureinwohnern in Alltagskleidung, wie ehedem Miraculix, Verleihnix und eben Asterix und Obelix. Troubadix fehlte und durfte, wie seine Vorgänger vor 2000 Jahren, die Gäste nicht mit seinem Gesang betrüben.
Der Bürgermeister des Örtchens wurde zwar auf keinen Schild getragen wie ehedem Majestix, aber feierlich war es dennoch. Er und die Honoratioren des Ortes standen mit Anzug, die Schärpe in Nationalfarben über die Brust gespannt auf einem mit grünen Girlanden und Frankreich flaggen (bleu, blanc, rouge – blau, weiß, rot) geschmückten Podest. Unser Dolmetscher reichte das Willkommens-Bienvenue und zwei längere Ansprachen des ersten und zweiten Bürgermeisters an uns in Deutsch weiter. Als „Diplomaten in Ausbildung“ ertrugen wir dies geduldig.
Wenn aus Feinden Freunde werden
Die Freundschaft der Völker wurde in zwei Sprachen beschworen, und die örtliche Musikkapelle spielte die französische Nationalhymne (Auf, auf Kinder des Vaterlands!
Der Tag des Ruhmes, der ist da). Es hieß, dass es nun Aufgabe der Jugend wäre, diese Länderfreundschaft mit Leben zu erfüllen. Das ließen wir uns natürlich nicht zweimal sagen. Doch es sollte nicht so weit gehen, dass diese Liebe schon nach neun Monaten zu deutlich zum Ausdruck kommen würde. Wir wurden anschließend in Zweiergruppen (gleichgeschlechtlich) auf 18 Bauernhöfe mit etwa gleichaltrigen Jugendlichen verteilt, sozusagen mit Familienanschluss. In meinem Falle stand ein mittelalterlicher Ziehbrunnen im Hof, um Wasser hochzukurbeln, was dringend erforderlich war, um den damals zarten Bartwuchs morgens einzuseifen und zu bändigen. Die Verköstigung, mit Eselswurst, Muscheln, Café au lait mit Baguette und Cok au vin (mit Rotwein gekochter Hahn), war sehr rustikal und bedurfte einer gewissen Anpassung. Dafür zählte der Rotwein bereits auf dem Frühstückstisch zu den unvergesslichen Genüssen, die unsere Tage beflügelten.
Kühe, Kälber und Küsse
Ziel des bayerischen Landwirtschaftsministeriums war unter anderem, die Reisekosten dadurch zu rechtfertigen, indem wir uns mit dem örtlichen schwarz-weiß gefleckten Milchkuhtier und dessen Fütterung näher befassen sollten. Nachdem wir aber die dortige Landjugend kennenlernten interessierten und die Vierbeiner nicht mehr im Geringsten. Wir unterhielten uns mit unseren neuen Freunden fortan auf Englisch, da sich das zumindest unter Jugendlichen links- wie rechtsrheinisch, mehr recht als schlecht, als Lingua franca (Weltsprache) etabliert hatte.
Und für zarte Liebesbekundungen, die wir im Englischunterricht nicht beigebracht bekamen, hatten wir kleine Wörterbüchlein dabei. Nicht nur niedliche Kälbchen hatten schöne Kulleraugen, auch die Mädchen auf den Bauernhöfen. „Du hast schöne Augen – tu as de beaux yeux“ genügte, um ein beidseitig verlegendes Erröten hervorzurufen und spätabends Händchen haltend über die Blumenwiesen zu schweben. Hätte man dies den Kriegsteilnehmern der beiden Kriege prophezeit, sie hätten ihre Gewehre weggeworfen.
Völkerverständigung eng umschlungen
Wir verbrachten nur aus rein historischem Interesse die Zeit mit der Suche nach riesigen Hinkelsteinen, um uns dann hinter diesen zu zweit zum Zwecke der mündlichen Völkerverständigung zu verstecken. Die Gastgeberkinder buddelten bei einem Ausflug am Strand des Atlantiks nach Schalentieren fürs Abendessen.
Auf den mitgebrachten Badetüchern, den Blick einesteils gen Meer und anderseits zu den Schönheiten gewendet, führten wir lediglich aus, was politisch gewollt war. Der Liebesschlager mit einer eindeutigen Frage nach einem nächtlichen Tête-à-Tête»Voulez-vous coucher avec moi ce soir?« kam erst vier Jahre später in die Charts, was unseren gegenseitigen Bemühungen, sich näherzukommen, jedoch nicht abträglich war. Auf wundersame Weise entwickelten sich einige Freunde wie Liebschaften.
Tränen flossen in Strömen
Bei unserer Abreise flossen die Tränen, bei unserem Gastgeben als auch bei uns. An die Küsschen auf die Wangen, erhalten von Alt und Jung, hatten wir uns schnell gewöhnt und diese kulturelle Besonderheit im rauen Germanien später vermisst. Welch ein Wunder war geschehen! jahrhundertelange Erbfeindschaft war offenbar nur eine dem Volk eingetrichterte Lüge. Menschen an der Basis entscheiden nach emotionalen Gründen, die Staatenlenker nach politischem Machtkalkül.
Nach dem gegenseitigen Bekunden ewiger Liebe entstanden dann doch mehrjährige Fernbeziehungen mit Besuchen über 1200 Kilometer mit Vaters Auto. Zoom, WhatsApp, E-Mail und Skype gab es noch nicht. Und der Autor selbst hat nach weiteren 22 Jahren die Hochzeitsreise, mit einer Französin am Arm, just in diesen Ort in der Bretagne gelenkt.
Ein »Willkommen« auf diese herzerwärmende Weise zu erfahren, knapp 30 Jahre nachdem sich unserer Vorfahren noch die Schädel eingeschlagen hatten, zeugte von der Weitsicht von Adenauer und Schuhmann, den Versöhnungsprozess voranzutreiben. Gut so, sonst wäre ein Neuanfang zwischen den »Erbfeinden« wohl nicht möglich gewesen. Erbfeinde waren nie die kleinen Leute, die jedoch dafür geopfert wurden.
Zwischen Russland und der Ukraine wird es irgendwann einen ähnlichen Friedensprozess geben müssen. Auch hier wäre es hilfreich, die Kinder, die schneller das Böse vergessen und in wenigen Jahren zu Jugendlichen und Erwachsenen werden, in diese Versöhnung frühzeitig mit einzubinden.
.
.
.