200 000 Russen sind nach Serbien emigriert. Sie sind willkommen – oft aus den falschen Gründen. Ein Augenschein.
Seit Kriegsbeginn lebt eine große und vielfältige russische Diaspora in Belgrad. Viele werden wohl bleiben und die Stadt verändern.
Denis ist Teil einer Immigrationswelle historischen Ausmasses. Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine sind laut dem serbischen Innenministerium über 200 000 Russinnen und Russen in zwei Wellen nach Serbien gereist. Das Land kannte bisher nur Binnenmigration aus dem vormals jugoslawischen Raum und natürlich den Transit auf der Balkanroute von Hunderttausenden Migranten aus Afghanistan und Nahost.
Jetzt kommen Russen, um zu bleiben. Ihre Präsenz verändert die Hauptstadt und zwingt manche Serben, ihr verzerrtes Bild von Russland und von Putin zu revidieren. Die erste Welle nach Kriegsausbruch brachte vorwiegend Dissidenten und Aktivisten wie Denis ins Land. Mit der zweiten Welle im letzten September kamen neben Kriegsgegnern auch viele Berufs- und Geschäftsleute, die Russland wegen der wirtschaftlichen Folgen des Krieges verließen. Männer und Frauen sind unter den Emigranten etwa gleich stark vertreten.
Serbien wurde zur Destination, weil es keine Sanktionen gegen Moskau ergriffen hat. Es gibt keine Einreisesperren. Wer hier eine Firma registriert oder eine Arbeitsstelle hat, bekommt sofort eine Aufenthaltsbewilligung, alle anderen verlängern immer wieder ihre Touristenvisa.
Denis arbeitet jetzt für eine NGO, die Geflüchteten aus der Ukraine evakuiert. Er hat bei einer Freundin seiner Mutter Unterschlupf gefunden, die eine Wohnung gleich um die Ecke bei der Kathedrale hat. Es ist eine einsame Beschäftigung, die meiste Zeit sitzt er dort vor dem Computer.
Obwohl er oft allein ist, gefällt es Denis recht gut in Belgrad. Mit wem er auch ins Gespräch kommt, fast immer schlägt ihm Sympathie entgegen. Nur leider oft aus den falschen Gründen. Er erzählt von einer Zugreise von Montenegro nach Belgrad. Zwei junge Serben, ein Architekt und ein Choreograf, setzten sich zu ihm ins Abteil. Schnell kam das Gespräch auf den Krieg.
«Dass ich vor dem Krieg weggelaufen bin, das konnten sie noch verstehen», sagt Denis. Aber dass Russland diesen angefangen habe, wollten sie ihm nicht abnehmen. «Der Westen habe Putin doch provoziert, sagten sie. Ich konnte sie nicht überzeugen.»
Im Umgang mit Medien sind viele Russen vorsichtig. Wer sich politisch äußert, tut dies selten unter vollem Namen, und viele möchten nicht fotografiert werden. Die russische Botschaft habe sie im Auge, glauben sie. An Geheimdienstlern dürfte es in dem grauen Bürogebäude an der Deligradska 32 nicht fehlen. Recherchen von Radio Free Europe zeigen, dass einige Agenten, die aus EU-Ländern ausgewiesen wurden, jetzt in Belgrad sitzen. Die Botschaft zählt 62 Diplomaten, bei Kriegsbeginn waren es 54.
Zweite russische Einwanderung in hundert Jahren
Über 60 Prozent der Serben geben der Nato und dem Westen die Schuld am Krieg: So wie die Nato Serbien im Kosovokrieg 1999 in die Niederlage bombardiert habe, so versuche der Westen jetzt Russland in die Knie zu zwingen, geht das Narrativ. Diese Analogie kann man in jedem Taxi und in jedem Wirtshaus hören und auch täglich in der Zeitung lesen. Russland wird jetzt Serbiens Demütigung rächen, das ist die implizite Botschaft.
Wer durch die Belgrader Innenstadt geht, durch die Parks in Stari Grad, die engen Straßen von Dorcol oder über das Plateau von Vracar, hört überall Russisch. Es gibt neuerdings russische Lebensmittelgeschäfte, Restaurants und Bars. Und weil die emigrierten Russen meist jung und urban sind, verändern sie auch die Kulturszene. Avantgarde-Formationen aus Petersburg und Moskau treten auf und finden im Dom omladine, dem «Haus der Jugend», auch ein einheimisches Publikum. In den hippen Galerien stellen junge Russen aus.
Das erinnert an die Zeit nach der russischen Revolution 1917. Damals, nach dem Ersten Weltkrieg, flohen Tausende Revolutionsgegner (die sogenannten «Weißen») nach Serbien und nahmen Wohnsitz in Belgrad. Auch sie gehörten meist zur gebildeten Elite und brachten ihre Architektur, Wissenschaft und Literatur mit. Das verschlafene Belgrad erlebte einen kulturellen Aufschwung. Plötzlich gab es nächtliche Tanzveranstaltungen und Bars, die bis frühmorgens offen blieben. So entstand, ein russisches Geschenk, das Belgrader Nachtleben, auf das die Hauptstädter so stolz sind.
Belgrad hat heute 1,7 Millionen Einwohner. Wenn auch nur ein Teil der russischen Migranten sich fest niederlässt, wird das die Stadt auch wirtschaftlich verändern. 4500 russische Firmen sind im letzten Jahr in Serbien registriert worden. Ein Großteil davon sind IT-Unternehmen.
Heimweh nach Russland
Dass die vielen Russen die tief sitzenden positiven Vorurteile gegenüber Russland auflösen, darauf hofft der 42-jährige Jurist Peter Nikitin. Er ist der Kopf der Russischen Demokratischen Gesellschaft, die sich im Literaturklub Krokodil trifft. Das Lokal liegt an einer Treppe, die vom Sava-Ufer steil hinauf zur Kunstakademie führt. Am frühen Abend sitzen in dem gemütlichen Raum mit Bar vielleicht zehn Personen, trinken und plaudern.
Nikitin schaut kurz vorbei. Er ist ein viel beschäftigter Mann, organisiert Diskussionsabende, Demonstrationen und Ausstellungen gegen den Krieg. Er hat wenig Zeit, doch die nutzt er für präzise Auskünfte: Das Durchschnittsalter der «Belgrader Russen» schätzt Nikitin auf 30 Jahre, die meisten sind gut ausgebildet. Etwa 20 Prozent seien politisch aktive Kriegsgegner.
Nochmals 20 Prozent verabscheuten den Krieg, wollten sich aber nicht exponieren. Und 60 Prozent seien neutral. Was heisst das? «Sie warten ab, wie sich die Dinge zu Hause entwickeln.» Nikitin, dessen Kinder in Belgrad aufwachsen, kämpft nicht nur gegen den Krieg. Er will auch die serbische Gesellschaft aus ihrem falschen Traum von Russland aufwecken.
Die meisten Serben wüssten nicht genug vom Alltag und von der Kultur Russlands, sagt er. Und gerade weil das so sei, störe nichts das selbstgemachte Idealbild. Dagegen, so Nikitin, helfe nur Aufklärung. Aber leicht ist das nicht, denn neben dem russlandfreundlichen Mainstream gibt es eine militante Pro-Putin-Szene, die in den ersten Kriegsmonaten ohne Weiteres 5000 Demonstranten auf die Strassen Belgrads brachte.
Der 27-jährige Moskauer Computerspezialist Lev sitzt an einem der Holztische. Er hat Feierabend, viel Zeit und rührt in der Teetasse. Aus Usce am anderen Flussufer, wo er bei Microsoft arbeitet, ist er über die Branko-Brücke ins «Krokodil» gekommen. Seit einem halben Jahr arbeitet er bei dem amerikanischen Unternehmen, zusammen mit weiteren hundert Exilrussen.
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Ende
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