Der Israel-Palästina-Konflikt scheint heute mehr
denn je unlösbar zu sein. Vor hundert Jahren, am 2. November 1917, wurde
jenes Dokument veröffentlicht, das ihn provoziert hat: die
Balfour-Erklärung. Sie versprach den Juden eine nationale Heimstätte und
den Arabern, dass ihre Rechte nicht beschnitten würden.
In dieser Erklärung versichert der damalige
britische Außenminister Lord Arthur Balfour den prominentesten Vertreter
der zionistischen Bewegung in England, den Zweiten Lord Rothschild, der
Unterstützung der Regierung und der britischen Krone beim Aufbau einer
nationalen Heimstätte in Palästina.
Die Balfour-Erklärung legte den Grundstein zu dem
bis heute andauernden Konflikt zwischen Juden und Arabern. Das
Zeitfragen-Feature von Ruth Kinet geht zurück an den Anfang dieses
Konflikts.
Balfour 100 ist eine Internetseite, initiiert und finanziert vom Vierten Lord Rothschild und der jüdischen Gemeinschaft in Großbritannien.
Jacob Rothschild: „Ich werde meine Brille aufsetzen, um sicherzugehen, dass ich es korrekt vorlese...“
„Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit
Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische
Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles
zu erleichtern, wobei, wohlverstanden, nichts geschehen soll, was die
bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen
Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status
der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte. Ich wäre Ihnen
verbunden, wenn Sie diese Erklärung der Zionistischen Vereinigung zur
Kenntnis bringen würden. Ihr Arthur Balfour“
Diese Erklärung adressierte der britische
Außenminister Lord Arthur Balfour am 2. November 1917 an den Zweiten
Lord Rothschild, Lionel Walter Rothschild, den Großonkel von Jacob
Rothschild.
Für den Vierten Lord Rotschild markiert dieser Tag eine Zeitenwende:
„Für mich war das einer der außergewöhnlichsten
Momente in der Geschichte des jüdischen Volkes. Wenn man bedenkt, dass
es 3.000 Jahre dauerte, bis es soweit war.“
Vier Entwürfe hatte es gegeben, bevor diese
endgültige Fassung veröffentlicht wurde. Am 31. Oktober 1917 stimmte das
britische Kriegskabinett schlussendlich einer fünften Textfassung zu.
Zwei Tage später brachte ein Bote Lord Lionel Walter Rothschild den
Brief zu seiner Londoner Residenz: Piccadilly Nummer 148.
Magischer Klang eines Namens
„Adressing the declaration to Lord Rothschild served a number of purposes.“
James Renton erläutert, warum die Erklärung an Lord
Rothschild adressiert wurde. Er ist spezialisiert auf die
britisch-zionistischen Beziehungen während des Ersten Weltkriegs und
lehrt Geschichte an der Edge Hill University im Nordwesten Englands:
„Erstens war Rothschild der Mittelpunkt des
britisch-jüdischen Establishments. Zweitens hatte der Name Rothschild zu
dieser Zeit nicht nur in der jüdischen, sondern in der ganzen Welt
einen magischen Klang. Rothschild war die Verkörperung der
vielbeschworenen jüdischen Macht. Lord Rothschild zum Adressaten zu
machen, bediente das Bild vom britisch-jüdischen Establishment und
demonstrierte zugleich die engen Beziehungen zwischen britischer
Regierung und zionistischer Bewegung.“
Lionel Walter Rothschild war das Aushängeschild des
Zionismus in Großbritannien und der Welt. Die wahren Unterhändler auf
dem Weg zur Balfour-Erklärung waren aber der Generalsekretär des
Zionistischen Welt-Kongresses, Nachum Sokolov, und der in Weißrussland
geborene, in Darmstadt und Berlin ausgebildete Chemiker Chaim Weizmann.
Weizmann lehrte seit 1904 an der Universität Manchester.
1906 kreuzten Weizmanns Wege in Manchester erstmals
die von Lord Arthur Balfour. In einer persönlichen Unterredung konnte
er Balfour von seinen zionistischen Vorstellungen erzählen und
begründen, warum es seiner Ansicht nach nicht sinnvoll sei, Juden etwa
in Uganda oder irgendeinem anderen Ort als in Palästina anzusiedeln. In
seinen Erinnerungen schreibt Weizmann:
„Plötzlich fragte ich ihn: „Mr. Balfour,
angenommen man würde Ihnen Paris statt London anbieten, würden Sie es
annehmen?“ Er richtete sich auf, sah mich an und antwortete: „Aber, Dr.
Weizmann, London haben wir.“ „Gewiss“, sagte ich, „aber wir hatten
Jerusalem schon, als London noch ein Sumpfgebiet war.“ Er lehnte sich
zurück, sah mich groß an und sagte dann zwei Sätze, die mir
unvergesslich geblieben sind. Zuerst: „Gibt es viele Juden, die so
denken wie Sie?“ Darauf antwortete ich ihm: „Ja, Millionen, von denen
Sie nichts wissen und die nicht selbst für sich sprechen können, (...)
Sie könnten die Straßen des Landes, aus dem ich komme, damit pflastern.“
Da erwiderte er: „Wenn das so ist, dann werden Sie eines Tages Ihr Ziel
erreichen.“
Der israelische Wissenschaftler und Politiker Chaim Weizmann (1874-1952)© dpa / Friedrich Rauch
Der Veröffentlichung der Balfour-Erklärung gingen
lange Monate der Verhandlungen zwischen Vertretern der zionistischen
Bewegung und der britischen Regierung voraus. In der Londoner „Times“
erschienen zahlreiche Artikel, in denen das Für und Wider einer
jüdischen Heimstatt in Palästina erörtert wurde. Einige Juden der
gesellschaftlichen und politischen Elite Großbritanniens sorgten sich,
dass man an ihrem Patriotismus zweifeln könnte, wenn sie sich für einen
eigenen Staat der Juden einsetzten. Die Juden seien eine religiöse
Gemeinschaft und könnten keine eigene nationale Heimat beanspruchen.
Dieser Argumentation widerspricht die
Balfour-Erklärung, indem sie vom jüdischen Volk spricht. Aber der Sorge
der assimilierten Juden vor einem Verlust ihres Status und ihrer Rechte
wurde in der Balfour-Erklärung dennoch Rechnung getragen.
Jacob Rothschild: „... wobei nichts geschehen
soll, was (...) die Rechte und den politischen Status der Juden in
anderen Ländern in Frage stellen könnte.“
Wiedergeburt eines Volkes
Juden auf der ganzen Welt spürten, dass die
Balfour-Erklärung Vorbote einer neuen Zeit war und feierten sie
euphorisch. Zum ersten Mal erkannte eine Weltmacht die Verbindung der
Juden zum Land ihrer Vorfahren an und stellte die Wiedergeburt des
jüdischen Volkes als nationale Einheit in Aussicht. Der in London
erscheinende „Jewish Chronicle“ schrieb:
„Mit einem Schritt hat die jüdische Sache einen
großen Sprung vorwärts getan. Für uns ist eine neue Epoche angebrochen.
Inmitten aller Finsternis, Tragik und Bedrückung auf der Welt geht für
die Juden ein großes Licht auf. Es hebt sich eine Jahrhunderte alte
Wolke, das greifbare Zeichen, dass der Jude, der seit 2.000 Jahren zu
unvergleichlichem Unrecht verurteilt war – nun endlich zu seinem Recht
kommt.“
Auch die Juden in den USA begeisterten sich in
ihrer Mehrheit für diesen Durchbruch des zionistischen Projekts – zwei
Jahrzehnte nachdem Theodor Herzl sein Buch veröffentlicht hatte: „Der
Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“.
Aber die Balfour-Erklärung löste gleich nach ihrer
Veröffentlichung Kontroversen aus. Bis heute erforschen Historiker und
Politikwissenschaftler die Entstehungsgeschichte und die Folgen der
Balfour-Erklärung und erweitern dabei laufend das Spektrum möglicher
Deutungen:
„I consider the Balfour declaration a declaration of war on the Palestinians.“ (Rashid Khalidi)
„I think that the British government should absolutely apologize for the Balfour declaration...“ (James Renton)
„My Lords, the Balfour declaration in 1917 was a momentous reversal of imperialism...“ (Rabbi Sacks)
Die Balfour-Erklärung umfasste 67 Worte, mehr nicht. Aber diese 67 Worte boten sehr viel Raum für Interpretation.
Der britische Historiker James Renton hat den
Möglichkeitsraum, den diese 67 Worte eröffneten, intensiv erforscht.
2007 erschien sein viel beachtetes Buch „The Zionist Masquerade“ über
die Entstehung der Beziehungen zwischen der britischen Regierung und der
zionistischen Bewegung während des Ersten Weltkriegs:
„Über die Frage, was die britische Regierung
der zionistischen Bewegung genau versprochen hat, wird seit der
Veröffentlichung der Balfour-Erklärung heftig debattiert. Die britische
Regierung kümmerte sich überhaupt nicht um eine Präzisierung und auch
nicht um die Auswirkungen der Erklärung auf das Heilige Land. Was sie
interessierte, war die Frage, wie sie die vermeintliche Macht der Juden
für sich nutzen könnte. Sie war irrtümlicherweise davon überzeugt,
dass, indem sie den Zionismus unterstützen würde, sie den Einfluss der
Juden, an den sie glaubte, für sich würde nutzen können. Deshalb
eröffnete die britische Regierung gleich nach Veröffentlichung der
Balfour-Erklärung ein Propaganda-Büro, um so viel politisches Kapital
wie möglich aus der Erklärung schlagen zu können.“
Die britische Regierung definierte nicht, was sie
genau meinte, wenn sie von einer „nationalen Heimstätte für das jüdische
Volk in Palästina“ sprach. Es blieb offen, ob damit ein kulturelles
Zentrum oder ein Staat gemeint war. Der Historiker James Renton sagt, er
habe keine Hinweise in den Archiven finden können, die darauf
hindeuteten, dass die britische Regierung mit der Balfour-Erklärung die
Gründung eines jüdischen Staates auf den Weg bringen wollte.
Als das Empire expandierte
„Um die Balfour-Erklärung zu verstehen, muss
man sich erst einmal über die Geisteshaltung der Briten in dieser Zeit
klar werden.“
„Das Empire stand in jener Zeit noch in voller
Blüte. Und die Eroberung Palästinas durch die Briten war ein Schritt auf
dem Expansionskurs des Empires. Sie haben am Ende des Ersten Weltkriegs
nicht nur Palästina erobert, sondern auch den Irak und das Gebiet, das
später Jordanien werden würde. Sie haben ihre Position am Persischen
Golf stabilisiert und im Gebiet des heutigen Jemen, und sie waren die
Macht hinter dem Thron in Ägypten. Die Geisteshaltung der Briten war in
dieser Zeit imperialistisch, elitär, klassenbewusst und rassistisch. Die
Bevölkerungen aller Länder, die sie kontrollierten, kategorisierten die
Briten nach ethnischer und religiöser Zugehörigkeit. Heute betrachten
wir das als extrem rassistisch, damals aber galt das als
wissenschaftlich.“
Wie die in der Balfour-Erklärung verbriefte
wohlwollende Betrachtung der Errichtung einer nationalen Heimstätte für
das jüdische Volk in Palästina mit der dort ebenso verbrieften Wahrung
der Rechte der „bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina“
zusammengehen sollte, blieb offen. Die Erklärung hatte aber einen
Subtext, so Rosemary Hollis:
„Nach der Vorstellung der Briten sollten die
europäischen Juden, die die zionistische Bewegung anführten, befähigt
werden, Palästina zu kolonisieren und das könnte dann gut sein für die
arabische Bevölkerung, die nach Meinung der Briten rückständiger und
weniger zivilisiert war als die europäischen Juden.“
Der Oberbefehlshaber der britischen Truppen in
Ägypten, General Edmund Allenby, führte im Herbst 1917 einen Feldzug
gegen die Osmanische Armee und die mit ihr verbündeten deutschen und
österreichisch-ungarischen Truppen. Am 31. Oktober, zwei Tage vor
Veröffentlichung der Balfour-Erklärung, eroberte Allenby Beersheva, am
7. November Gaza, am 16. Jaffa und am 9. Dezember eroberte er Jerusalem.
Wenige Tage später zog General Allenby hoch zu Ross
die Jaffa-Straße in Jerusalem hinunter. Yiska Idelson war damals ein
kleines Kind. Als hoch betagte Frau erinnerte sie sich noch lebhaft an
die Stimmung in der Stadt:
„Ich war erst sechs Jahre alt, als ich Leute
auf beiden Seiten der Jaffa-Straße stehen sah und ich habe sie gefragt
‚Warum steht ihr hier?’ und sie sagten ‚Lord Allenby zieht hier auf
seinem Pferd die Straße herunter und wir wollen ihn begrüßen. Und dann
sah ich ein Pferd die Jaffa-Straße herunterkommen und alle waren von
Sinnen vor Erregung. Wir dachten, der Messias sei gekommen!“
Der britische Historiker Simon Sebag Montefiore
schildert in seiner Biografie der Stadt Jerusalem mit breitem
Pinselstrich die Debatten, die in jenen Tagen zwischen Arabern und Juden
in den Cafés geführt wurden:
„Das Meinungsspektrum war auf beiden Seiten
erstaunlich breit gefächert. Bei den Juden reichte es von den
Ultraorthodoxen, die den Zionismus als gotteslästerlich verteufelten,
über diejenigen, die sich vollständig integrierte jüdische Kolonien in
einem von Arabern beherrschten Nahen Osten vorstellen konnten, bis zu
den nationalistischen Extremisten, denen ein bewaffneter jüdischer Staat
mit einer relativ rechtlosen arabischen Minderheit vorschwebte. Bei den
Arabern gab es nationalistische Fundamentalisten, die am liebsten alle
jüdischen Einwanderer aus dem Land vertrieben hätten, ebenso wie
liberale Demokraten, die mit jüdischer Unterstützung einen arabischen
Staat aufbauen wollten. In arabischen Intellektuellen kreisen wurde auch
über die Frage diskutiert, ob Palästina zu Syrien oder zu Ägypten
gehören sollte.“
Misstrauen gegen die Zionisten
„Die überwiegende Mehrheit der Artikel stand
der zionistischen Bewegung sehr, sehr misstrauisch und kritisch
gegenüber. Die Leute waren nicht unwissend zu jener Zeit. Sie verfolgten
die Zionisten-Kongresse, die öffentlichen Äußerungen der
Zionistenführer und wussten im Groben, was die Zionisten vorhatten,
nämlich Palästina von einem arabischen in ein jüdisches Land zu
verwandeln.“
Für Rashid Khalidi ist die Erforschung der
Geschichte jener Zeit eng mit seiner eigenen Familiengeschichte
verknüpft: Sein Vater wurde 1916 in Jerusalem in eine Dynastie von
Intellektuellen, Amts- und Würdenträgern hineingeboren. Der Großcousin
des Urgroßvaters von Rashid Khalidi war Ende der 1870er-Jahre einer der
letzten arabischen Bürgermeister Jerusalems: Yussuf Zia Pasha
al-Khalidi. Der unter anderem im k.-und-k.- Österreich ausgebildete
al-Khalidi hatte 1899 über einen befreundeten Rabbiner in Frankreich
Kontakt zu Theodor Herzl aufgenommen. Rashid Khalidi hat die in
Französisch verfasste Korrespondenz zwischen seinem Vorfahren und dem
Begründer des Zionismus gelesen. Sie lagert in der Familienbibliothek in
Jerusalem:
„Er schrieb ihm unter anderem, dass der
Zionismus eine vollkommen nachvollziehbare Regung sei, er aber sehr
darum bitte, nicht nach Palästina zu kommen, denn dort gebe es schon
eine Bevölkerung. Er flehte Herzl geradezu an, die zionistische Bewegung
nicht in Palästina zu verwurzeln. Herzl antwortete ihm herablassend auf
alle Argumente, die Yussuf Zia al-Khalidi in seinem Brief vorgebracht
hatte.“
Wenn es nach Chaim Weizmann ging, dann hatten die
in Palästina lebenden Araber von den sich neu ansiedelnden Juden nichts
zu befürchten. Im Gegenteil. In seinen Augen hing das Gedeihen einer
nationalen Heimstätte für das jüdische Volk vor allem an der
Verständigung mit der arabischen Bevölkerung Palästinas. Weizmann sagte
in einer Rede vor arabischen Delegierten im Hause des Gouverneurs von
Jerusalem:
„Wir beabsichtigen hier die Bedingungen für die
ideelle und materielle Entwicklung der Menschen unseres Volkes zu
schaffen, die sich aus freiem Willen entschlossen haben, hierher zu
kommen. Und wir sind davon überzeugt, dass das möglich sein wird. Und es
muss möglich sein, das nicht zum Nachteil der großen Gemeinschaften zu
tun, die schon im Lande Bürgerrecht besitzen, sondern im Gegenteil zu
ihrem Besten. Es gibt genug Land und Platz in Palästina. Und alle
Befürchtungen, die offen und heimlich von den Arabern geäußert wurden,
dass sie von dem Boden, auf dem sie sitzen, vertrieben werden sollen,
beruhen auf einem großen Irrtum oder auf Täuschungen seitens unserer
Feinde.“
Fairness statt Eifersucht?
1918 endete der Erste Weltkrieg. In Paris begannen
die Friedensverhandlungen. Chaim Weizmann suchte dort die Annäherung an
den haschemitischen Emir Faisal I., der seinerseits einen arabischen
Aufstand für die Unabhängigkeit Syriens und Palästinas von der
osmanischen Vorherrschaft anführte. Beide steckten ihre Interessen ab
und erkannten so viel Übereinstimmung, dass sie im Januar 1919 ein
Abkommen schlossen, in dem sie ihre gegenseitige Nähe unterstrichen und
sich zu „engst möglicher Zusammenarbeit“ verpflichteten. Zwei Wochen vor
Unterzeichnung des Abkommens wurde Faisal in einem Artikel der „Times“
mit den Worten zitiert:
„Die beiden Hauptzweige der semitischen
Familie, Araber und Juden, verstehen einander und ich hoffe, dass als
Ergebnis unseres Ideenaustauschs bei der Friedenskonferenz (...) jede
der Nationen Fortschritte machen wird bei der Verwirklichung ihrer
Ziele. Die Araber sind nicht eifersüchtig auf die zionistischen Juden
und beabsichtigen, ihnen fair zu begegnen und die zionistischen Juden
haben die national gesinnten Araber ihrer Absicht versichert, ihnen
ebenfalls fair zu begegnen.“
Für den US-Historiker Rashid Khalidi allerdings ist
das Faisal-Weizmann-Abkommen kein Beleg für eine tragfähige Annäherung
zwischen Arabern und Zionisten. Er verweist auf eine von Faisal ergänzte
Klausel am Ende des Dokuments, nach der alle Vereinbarungen des
Abkommens daran geknüpft wurden, dass die Briten ihre Zusagen zu einer
staatlichen Unabhängigkeit der Araber einhalten:
„Natürlich lösten die Briten ihre Zusagen nie
ein. Das Abkommen spiegelt meiner Meinung nach nicht wirklich die
Geisteshaltung der beiden Unterzeichner Faisal und Weizmann, denn es war
Ergebnis einer Nötigung. Zumal Weizmann die Briten voll und ganz darin
unterstützte, Faisal so unter Druck zu setzen. Der war in einer
unmöglichen Situation. Die Syrer hatten ihn zum König von Syrien gemacht
und die Briten erkannten ihn nicht an. Er war eingezwängt zwischen den
Briten einerseits und der öffentlichen Meinung in Syrien und Groß-Syrien andererseits.“
Waren Zionisten und Araber Figuren auf dem
imperialen Schachbrett der Briten?
Rashid Khalidi kann diese These mit
seinen Forschungen belegen:
„Ausschlaggebend für die Balfour-Erklärung war
die Überzeugung der Briten, dass sie Palästina als Brückenkopf und
strategischen Puffer im Osten Ägyptens benötigten. Zu dieser Erkenntnis
waren sie schon vor dem Ersten Weltkrieg gekommen, zwischen 1906 und
1914. Als die osmanische Armee 1915 dann den Suez-Kanal erreichte,
verschärfte sich die strategische Dringlichkeit der Absicherung Ägyptens
im Osten noch. Und deshalb war die britische Regierung so überzeugt von
der Idee ‚Wir müssen Palästina kontrollieren’. Das ist der eigentliche
Antrieb hinter der Balfour-Erklärung. Ihr Zustandekommen hat gar nicht
primär etwas mit den Zionisten zu tun. Der Weg aber, auf dem die Briten
ihr strategisches Ziel erreichten, führte über die Unterstützung des
Zionismus und hatte damit zu tun, dass die Briten die USA zum Eintritt
in den Krieg bewegen wollten und dass manche von ihnen aus
philosemitischen, andere aus antisemitischen Motiven das Entstehen einer
nationalen Heimstatt für die Juden in Palästina sinnvoll fanden. Aber
meiner Einschätzung nach waren das lediglich zweitrangige Überlegungen.“
Der Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas redet vor den Vereinten Nationen am 22. September 2016.© dpa / EPA / Justin Lane
Bis heute ist die Balfour-Erklärung ein
Knotenpunkt, an dem viele Nervenstränge des israelisch-palästinensischen
Konflikts zusammenlaufen. Das Ringen um ihre Deutung hat sich in den
vergangenen Monaten mit Blick auf den hundertsten Jahrestag
intensiviert.
Im September 2016 markierte Palästinenserpräsident
Mahmoud Abbas vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen den
offiziellen Standpunkt der Palästinenser zur Balfour-Erklärung mit
diesen Worten:
„Wir fordern Großbritannien auf – nun, 100
Jahre nach Inkrafttreten der Deklaration – die notwendigen Schritte
einzuleiten und so seine historische, gesetzliche und politische wie
moralische Verantwortung zu übernehmen, eine Entschuldigung an die
Palästinenser für diese Katastrophe, diese Ungerechtigkeit und all das
Elend eingeschlossen, und Schadensbegrenzung dieses Unglücks zu
betreiben und den palästinensischen Staat anzuerkennen. Das wäre das
Mindeste, was Großbritannien tun könnte.“
Dieser Appell von Mahmoud Abbas ignoriert
allerdings, dass die Balfour-Erklärung rechtlich nicht bindend war. Sie
war zunächst nur eine Sympathiebekundung. Erst als Großbritannien 1920
das Völkerbundmandat für Palästina erhielt, trat auch die in der
Balfour-Erklärung formulierte Zusage der Unterstützung bei der
Errichtung einer nationalen Heimstatt des jüdischen Volkes in Palästina
de jure in Kraft.
Dennoch ist Mahmoud Abbas nicht allein mit seiner
Forderung nach einer Entschuldigung Großbritanniens für die
Balfour-Erklärung. Der britische Historiker James Renton zum Beispiel
hält eine Entschuldigung für dringend geboten. Aber seine Begründung ist
differenzierter:
„Ich bin fest davon überzeugt, dass die
britische Regierung sich entschuldigen sollte für die Balfour-Erklärung,
vor allem, weil sie die Realität des Zionismus und der arabischen
Bevölkerung Palästinas jener Zeit nicht verstand. Sie hat ein Chaos
verursacht, indem sie unter den Juden Palästinas und in der ganzen Welt
verbreitet haben: das sei jetzt der Beginn des jüdischen Nationalismus –
und zur gleichen Zeit hat sie in Palästina verbreitet, dass dies der
Beginn des arabischen Nationalismus sei. Und die britische Regierung
dachte, dass sie all dies würde managen und zusammenhalten können. Aber
das konnte sie nicht. Die Erwartungen, die die Briten während des Ersten
Weltkriegs geweckt haben, trugen wesentlich zur Explosion der
nationalistischen Bewegungen und der Konflikte zwischen ihnen bei.“
In Israel wird die Erinnerung an die
Balfour-Erklärung nicht nur zu ihrem 100. Jahrestag wach gehalten. Jedes
noch so kleine israelische Dorf hat Straßen und Plätze, die nach dem
britischen Außenminister benannt sind. Die Residenz des israelischen
Regierungschefs liegt in der Balfour-Straße in Jerusalem. An diese
Adresse geht die Ballade des israelischen Singer-Songwriters Amir Lev.
Wie in einem Mosaik legt er kleine Splitter des israelischen
Lebensgefühls nebeneinander und fügt sie lose in eine lange Schleife
schlichter Tonfolgen ein.
„Der Regierungschef kommt nicht zur Gedenkfeier
für die Gefallenen – die Brüder Bielski versteckten sich vor den
Deutschen – die Hölle in Dschenin – die Kinder in Gaza – die Kinder in
Sderot – Und am Ende fällt der Regierungschef immer auf den Roten
Teppich.“
Die Folgen des kolonialen Blickes
1947, 30 Jahre nach der Balfour-Erklärung,
beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Teilung
Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat. Am 14. Mai
1948 verkündete David Ben-Gurion die Unabhängigkeit des Staates Israel.
Darauf reagierten die Araber nicht mit der Gründung eines
palästinensischen Staates, sondern mit Krieg. Sie versuchten das
israelische Staatsgebiet militärisch zurückzuerobern. Ohne Erfolg.
Die staatliche Souveränität Israels ist eine
Tatsache. Der Konflikt zwischen Israelis und Arabern blieb ungelöst. Bis
heute. Er ist nicht zuletzt eine Folge des europäischen Kolonialismus.
Der koloniale Blick der Briten auf Palästina hat jene Konflikte
provoziert, unter denen die Menschen der Region bis heute leiden.
Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern
ist lösbar: Israelis und Palästinenser könnten mit einander ins Gespräch
kommen. Sie könnten lernen, die Geschichte des anderen nicht länger zu
leugnen – lernen, das Erbe des anderen anzuerkennen und zu respektieren.
Aber um das zu ermöglichen, müssten all diejenigen,
die nicht dort leben, ihre eigenen Interessen zurückstellen und Frieden
ernsthaft befürworten. Sie müssten Abschied nehmen von dem Geist, den
die Balfour-Erklärung atmet und der mit dem Schicksal anderer auf
größtmöglichen eigenen Gewinn spekuliert.
Hören Sie
zu diesem Thema auch ein Gespräch mit Tim Aßmann aus Tel Aviv
(2.11.2017/Studio 9: „100 Jahre Balfour-Deklaration – Grundstein des
Nahostkonflikts?").
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