In Kosovo werden
Unterschriften gesammelt.
Die Veteranenverbände der ehemaligen Rebellenorganisation UCK wollen erreichen, dass die Einrichtung des Spezialgerichtshofs zur Aburteilung von deren Verbrechen nochmals vor das Parlament kommt. Das Gericht sei antialbanisch und ziehe den Befreiungskrieg in den Dreck, heisst es. Die Sichtweise ist populär, und die angepeilten 10 000 Unterschriften dürften schnell beisammen sein.
Schützenhilfe haben die Veteranen von ganz oben erhalten. In einer Rede
vor Soldaten der «Kosovo-Sicherheitskräfte», einer leicht bewaffneten
Truppe, griff Präsident Hashim Thaci die westliche Staatengemeinschaft
scharf an: Die EU habe das Gericht mit grossem Druck dem Land
aufgezwungen.
Thaci klingt plötzlich anders
Nach
langem Zögern verabschiedete das Parlament im Augst 2015 ein Gesetz,
das den Gerichtshof zu einer Institution kosovarischen Rechts machte.
Thaci, damals Aussenminister, hatte seine Partei mit grösster Mühe zum
Einlenken gebracht. Er selber habe dem Gericht nur zugestimmt, weil die
Partnerschaft mit den USA, der EU und der Nato auf dem Spiel gestanden
habe. Doch seinen Zweck werde es nicht erfüllen. Tatsächlich hatte der
Westen damit gedroht, ein Sondergericht bei der Uno einzurichten, sollte
Kosovo den Widerstand gegen den von der EU finanzierten Gerichtshof
nicht aufgeben.
Doch jetzt, so Thaci, sei Schluss mit Kosovos «Servilität» und den Konzessionen an die internationalen Akteure. Die Zeit sei gekommen, gewisse ausländische Missionen zu schliessen, die das Bild eines unmündigen Landes vermittelten. Solche Töne kannte man bisher von der Oppositionspartei Selbstbestimmung (Vetevendosje). Sie kämpft seit Jahren gegen die «Kolonialisierung Kosovos» durch die Uno-Mission und die EU-Rechtsstaatsmission, die seit seit achtzehn bzw. zehn Jahren im Land sind. Weshalb aber zieht Thaci auf einmal neue Saiten auf? Woher die scharfe Rhetorik, die nicht einmal den sonst hochgeschätzten «amerikanischen Freund» verschont?
Thaci
gab während einer Debatte in Pristina die Antwort gleich selber. Die
westlichen Botschafter hätten ihm Zusagen gemacht: Komme das Gericht,
folgten eine Visa-Liberalisierung und die Erlaubnis, die eigene Armee
aufzubauen. Der Westen sei aber wortbrüchig geworden. Die EU-Vertretung
dementiert die Existenz eines solchen Deals. Plausibler ist eine andere
Erklärung für Thacis Frustration. Kosovo befindet sich in einer totalen
politischen Blockade. Zehn Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung ist
der Aufbau des Staates unvollendet und die internationale Anerkennung
noch nicht einmal innerhalb der EU vollständig. Zudem trennen noch immer
Visa-Mauern das Zwei-Millionen-Land von der EU, die diese für Länder
wie die Ukraine oder Georgien mittlerweile aufgehoben hat. Der Ärger ist
nachvollziehbar, das Debakel allerdings weitgehend selbstverschuldet.
Als Bedingung für die Aufhebung des Visa-Regimes hat die EU die Ratifizierung eines Grenzabkommens mit Montenegro verlangt. Doch dieses liegt seit zwei Jahren auf Eis. Ein Teil des Parlaments glaubt, Kosovo würde damit 8000 Hektaren Boden im Grenzgebirge an den Nachbarn verlieren. Bereits zwei Kommissionen haben über alten und neuen Karten gebrütet, ohne dass eine Einigung erzielt wurde. Selbst die Regierung ist in sich zerstritten. Auch mit der Umsetzung des Normalisierungsabkommens mit Serbien kommt Kosovo nicht voran. Es gibt breiten Widerstand gegen die vereinbarte Gründung eines serbischen Gemeindeverbandes, den viele Kosovaren als gefährlichen Fremdkörper auf ihrem Territorium ablehnen.
Rollentausch mit Serbien
Die
Unfähigkeit der kosovarischen Politiker, Gräben zu überbrücken und sich
dem Westen als konstruktiver Partner anzubieten, hat in vielen
europäischen Hauptstädten zu einer Verschiebung in der Wahrnehmung der
Kosovofrage geführt. Verblasst ist das Bild einer von Belgrad
unterdrückten Provinz. Gaben sich Kosovos Politiker gegenüber ihren
Mentoren zumindest verbal fast immer willig, zeigen sie sich heute
zunehmend eigensinnig. Negative Gefühle in den Hauptstädten weckt aber
auch das Versagen der EU-Missionen, die trotz riesigem finanziellem
Aufwand dem Land weder wirtschaftlich noch politisch auf die Füsse
halfen.
Daneben sieht Serbien nun plötzlich gut aus. Sein mächtiger Präsident hat das Land fest im Griff, von einer Opposition ist weit und breit keine Spur. Aleksandar Vucic half den Europäern schon bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Jetzt will er zu deren Erleichterung Kosovos Unabhängigkeit wenigstens de facto akzeptieren. Seine Flirts mit Moskau ziehen verlässlich die Aufmerksamkeit Berlins und Brüssels auf ihn: Belgrad darf demnächst zwei weitere Kapitel der EU-Beitritts-Gespräche verhandeln. Serbien ist plötzlich in die ganz ungewohnte Rolle des «good guy» geschlüpft. Nur schon das reichte, um die tiefe kosovarische Frustration zu erklären.