Eine staatliche Geldflut liegt zwischen der
Reichtumsillusion und der Realität – noch. Das „reiche Europa“ ist
längst ein Friedhof der lebenden Toten. Es ist in einem Schneeballsystem
gefangen.
„Ich bin mir nicht sicher, ob es nächstes Jahr überhaupt noch ein
Europa gibt“, sagte ein amerikanischer Finanzkommentator Anfang
September. Die norwegische Energiegruppe Equinor hatte gerade eine
Schätzung bekannt gegeben, nach der sich europäische Energieunternehmen
Margin Calls in Höhe von 1,5 Billionen Euro gegenübersehen. Die Margin
ist eine Sicherheitszahlung im Termingeschäft. Käufer und Verkäufer
schließen einen langfristigen Liefervertrag. Preis und Menge werden im
Voraus festgelegt. Steigt nun der Preis über den vertraglich
festgelegten, so steigt das Risiko, dass der Verkäufer nicht mehr
liefert, ist es doch ein Verlustgeschäft für ihn.
Als Sicherheit für den Käufer wird der Verkäufer indessen aufgerufen, die
Differenz zwischen vereinbartem Preis und dem aktuellen Marktpreis zu
hinterlegen – ein Margin Call. Und diese müssen die Energieunternehmen
bald bedienen. Die Differenz zwischen langfristig abgemachten
Lieferpreisen der europäischen Energieunternehmen und
Marktbeschaffungspreisen liegt also bei 1,5 Billionen Euro. Und die
Norweger sagen, sie hätten konservativ geschätzt. Die europäischen
Staaten springen nun ein und retten ihre Energieunternehmen. Sie
versprechen, für die Verluste einzustehen, ohne dass irgendwer real
ärmer werden muss. Das ist das Versprechen des modernen
Wohlfahrtsstaates. Und er hält es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Seit den 1970er-Jahren steigen öffentliche und private Verschuldung
kontinuierlich an. Früher, also vor dem Zweiten Weltkrieg, konnte man
Wirtschaftskrisen hervorragend in der Entwicklung der privaten Verschuldung
ablesen. Auf eine Krise folgte eine schmerzhafte Entschuldung des
Privatsektors. Unrentable Firmen erhielten keinen Kredit mehr, mussten
Überschüsse erwirtschaften oder verschwanden vom Markt. Haushalte
rutschten in bittere Armut. Die Toten wurden für tot erklärt und
begraben. Aber das Wachstum kam schnell wieder in Schwung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bleibt die private Verschuldung im
Krisenverlauf so ruhig wie die See bei Flaute. Sie steigt gemütlich und
stetig an. Krisen lassen sich jetzt in der staatlichen Verschuldung
erkennen. Die Verluste werden vom Staat übernommen. Unternehmen
verschwinden nicht vom Markt, und Haushalte verarmen nicht. Ein
Schneeballsystem. Der Staat springt mit Transfers überall da ein, wo es
hakt und verspricht dafür Wachstum, mit dem die gestiegene Staatsschuld
in Zukunft bezahlt werden kann.
Die Märkte glauben an das Wachstumsversprechen der Länder und
finanzieren die Verschuldung. Die Bevölkerung glaubt an den Staat und
glaubt daran, dass er jedes Risiko abfängt – oder können Sie ohne
Supermarkt überleben? Sie glaubt daran, dass die Währung ein sicheres
Transaktionsmittel ist, das man morgen noch genauso gut gegen Waren
eintauschen kann wie heute. Solange alle in der Kette an die gegebenen
Versprechen glauben, fallen die lebenden Toten, die durch die Straßen
schlurfen, gar nicht auf. Können alle gegebenen Versprechen eingehalten
werden, sind sie auch gar nicht weiter schlimm.
400 Prozent deutsche Staatsverschuldung
Die Wohlfahrtsstaaten sind weit über die von ihnen offiziell
angegebenen Werte verschuldet. Zur expliziten Verschuldung, die im Falle
Italiens aktuell 150 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung
entspricht, kommt noch die implizite Staatsschuld, also all die
Versprechen des Staates, die Pensionen, Sozial- und
Gesundheitsleistungen in Zukunft zu zahlen, hinzu. Für Deutschland
summieren sich diese Versprechen, laut einer Berechnung des
Finanzwissenschaftlers Bernd Raffelhüschen, aktuell auf fast 330 Prozent
des BIP. Damit steht Deutschland nicht mit den angegebenen 71 Prozent
Staatsverschuldung, sondern mit 400 Prozent Staatsverschuldung da.
Ein Land, in dem – gemäß einer kürzlich veröffentlichten Studie –
jeder zweite Vollzeitbeschäftigte gern die 4-Tage-Woche bei vollem
Lohnausgleich hätte. Dabei müsste Deutschland vier Jahre arbeiten, damit
die gegebenen Versprechen auch bezahlt werden können. Dass daran schon
lange keiner mehr glaubt, sieht man daran, dass das Volumen der von der
EZB gekauften Euro-Staatsanleihen mittlerweile 95,5 Prozent der neu
ausgegebenen Schuldtitel der Euro-Mitgliedsländer entspricht. Das ist
ein good old-fashioned Ponzi Scheme.
Wir merken es noch nicht, aber wir sind längst so viel ärmer geworden.
Allein der Schleier der Geldflut liegt noch zwischen der
Reichtumsillusion und der der Realität. Das „reiche Europa“ ist längst
ein Friedhof der lebenden Toten. Nur die enorme Staatsschuldenblase
steht zwischen uns und der ewigen Ruhe.
Schulden an sich sind nicht das Problem. Sie sind ein wunderbares
Mittel, um schon heute von zukünftigen Produktivitätszuwächsen zu
profitieren. So können etwa Lasten auf mehrere Generationen
verteilt werden. 30 Milliarden für Uniper hier, 400 Milliarden Darlehen
für die Umsetzung des europäischen Grünen Deals dort, Kurzarbeitergeld,
Tankrabatt, Rentenniveau, Pflegeversicherung, Gesundheitsvorsorge,
Infrastruktur. Kann man machen. Wenn die Zinsen niedrig sind und das
Wachstum hoch.
Der ehemalige Chefökonom des IWF, Olivier Blanchard, forderte in
einer Rede 2019 die Staaten dazu auf, angesichts der anhaltend niedrigen
Zinsen mehr Schulden zu machen. Solange das Wachstum die Zinsen
übersteigt, kann ein Land einfach aus den Schulden herauswachsen, die
Verschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung schrumpft
automatisch. Hält das Niedrigzinsumfeld an und wachsen die
Volkswirtschaften weiter, so ist der Verschuldungspfad tragfähig.
Heute würde Blanchard seine Rede bestimmt nicht mehr so halten. Er
ist kein schlechter Ökonom und weiß, dass Staatsverschuldung selbst die
Zinsrate, aber auch das Wachstum beeinflussen. Ihr 2008 erschienenes
Buch über die Finanzkrise nannten die Ökonomen Reinhard und Rogoff nicht
umsonst „This time is different!“ – diesmal ist es anders. Krisen
werden deshalb Krisen, weil vor ihrem Ausbruch genug Leute versicherten,
dass man sich keine Sorgen zu machen brauche, weil diesmal alles anders
sei. Die Zombies sitzen derweil debil lächelnd auf der
Verschuldungsblase wie auf einem Sitzsack.
Der Wohlfahrtsstaat erhält einen Margin Call
Was Blanchard nicht beachtet, ist, dass der Staat sein Geld immer
höchst ineffizient ausgibt. Die Verflechtung von Wirtschaft und
öffentlicher Verwaltung schaffen Möglichkeiten für Lobbymacht und
Gefälligkeiten. Sie setzen neue Anreize, das zentralisierte System für
eigene Zwecke zu nutzen. Glaubt der Markt nicht mehr an das
Wachstumsversprechen, steigen die Zinsen, zu denen sich der Staat
verschulden kann. Der Wohlfahrtsstaat erhält einen Margin Call. Er soll
eine Sicherheit für seine geleisteten Versprechen hinterlegen. Und das
kann er nicht. Arbeiten Sie mal vier Jahre, einzig, um ihre Schulden zu
begleichen. Nach ein paar Tagen sind sie verdurstet.
Der Kaiser ist nackt. Europa ein Friedhof. Entweder werden die
Verluste nun real. Wie vor dem Zweiten Weltkrieg macht eine Krise auf
einmal wieder ärmer. Wie bei jedem Schneeballsystem ist derjenige der
Verlierer, der noch investiert ist, wenn die Musik bereits ausgesetzt
hat. Jedoch hat kein Politiker ein Interesse daran. Von Zombies
Angefressene werden sie kaum wählen. Es ist besser, alle bleiben ruhig
auf der Schuldenblase sitzen. Die Zentralbank springt ein. Sie
alimentiert die realwirtschaftlichen Verluste mit neuem Geld, solange,
bis die Schulden, durch die verursachte Inflation, nichts mehr wert
sind. Im November 1923 entsprachen die 164 Milliarden Mark
Kriegsschulden des deutschen Kaiserreichs noch 16,4 Pfennige. Aus diesem
Elend speiste sich der Nationalsozialismus.
Ein solcher Margin Call wurde diese Woche einigen britischen
Pensionsfonds zugestellt. Aus regulatorischen Vorgaben sind sie, wie
alle anderen regulierten Vorsorgevehikel auch, dazu verpflichtet, in
geringe Risiken langfristig zu investieren. Laut staatlichem Regulator
weisen demnach Staatsanleihen ein Risiko von null aus. Sie sind absolut
sicher. Sagt der Staat. Als die britische Regierung am 23. September ein
schuldenfinanziertes Minibudget vorstellte, schmierten Pfund und
Staatsanleihen ab. Der Markt bepreiste das Risiko einer
Staatsschuldenkrise neu. Pfund zu halten, wurde weniger attraktiv, aus
Angst vor steigender Inflation. Das Versprechen des Staates, Schulden
durch mehr Wachstum in der Zukunft easy zurückzahlen zu können, war als
Sicherheit nicht mehr genug. Der Kursverfall brachte die Pensionsfonds
derart in Schieflage, dass die Bank of England ein Kaufprogramm in Höhe
von 65 Milliarden Pfund anstieß, um den Preis der Staatsanleihen zu
stabilisieren. Die Bank of England finanziert das Budgetdefizit der
britischen Regierung. Kontinentaleuropäische Verhältnisse auf der
Insel.
Die EU ist selbst ein Zombie
Bei der Vorstellung des Gaspreisdeckels am 29. September erwähnte
Finanzminister Lindner mehrfach, dass die deutsche Haushaltspolitik
nicht vergleichbar mit der britischen sei. Die „deutschen Staatsanleihen
[seien] der Goldstandard in der Welt“. Letztendlich wird es auf die
Reformfähigkeit des politischen Systems der Wohlfahrtsstaaten ankommen,
ob und wie gut sie diese, sich seit Jahrzehnten aufbauende,
Staatsschuldenkrise überstehen werden. Großbritannien und die USA sind
auf intelligent erdachten politischen Institutionen gebaut. Checks and
Balances und die Tradition der schottischen Aufklärung sind ein
wichtiges Ass im Ärmel, wenn auch kein Garant dafür, den perfekten Sturm
zu überdauern. Sie haben in der Geschichte politische Irrwege erkannt
und korrigiert. Die Fed erhöht die Zinsen weiter, entgegen der
Erwartungen des Marktes, und verkauft in der Krise erworbene
Wertpapiere.
Vielleicht wird der nächste US-Präsident einen Sparkurs einleiten,
die Ansprüche gegenüber dem Staat reformieren. Der Wettbewerb unter den
Bundesstaaten ist die Art Subsidiarität, die die EU mittlerweile zu
verachten scheint. Großbritannien konnte sich vom zentralplanerischen
und nicht reformierbaren institutionellen Gefüge der Europäischen Union
lösen. Allein das verspricht der Insel bessere Wachstumsaussichten als
jedem Mitgliedsland. Die Bank of England wird ebenfalls eine
Bilanzverkürzung starten und Wertpapier im Umfang von 80 Milliarden
Pfund in den nächsten 12 Monaten verkaufen. Diese Länder haben alle
einen großen Friedhof aber dennoch noch einen Dorfplatz, auf dem ein gut
besuchter Wochenmarkt stattfindet. Es besteht noch Hoffnung, dass sich
die Bewohner der Zombieapokalypse entgegenstellen können.
Die EU hingegen ist selbst ein Zombie. Alles, was wir aktuell in der
Geld- und Fiskalpolitik der Eurozone erleben, ist Leichenfledderei. Die
Tragfähigkeit der Staatsschulden der Euroländer ist nur bei
gleichbleibend niedrigen Zinsen für Staatsanleihen gegeben. Eher nimmt
die EZB Inflationsraten jenseits ihres Mandats in Kauf, als dass sie
Italien pleitegehen und den Euro damit untergehen lässt. Die EZB hat
ihre Glaubwürdigkeit vertan. Sie hebt die Zinsen an, löst eine Rezession
aus und stabilisiert im gleichen Atemzug die Staatsanleihen
strauchelnder Euroländer. Sie steuert also auf eine Yield Curve Control zu. Das bedeutet,
dass eine Zentralbank Papiere eines Landes so lange kauft, bis der
gewünschte Zinssatz erreicht ist. Yield Curve Control hat die Fed z.B.
während des Zweiten Weltkriegs betrieben, um die Kosten der enormen
Kriegsverschuldung im Griff zu halten.
Das neue „Transmission Protection Instrument“ erlaubt der EZB, immer
dann einzugreifen, wenn Mitgliedstaaten am Markt falsche Preise – also
höhere Zinsen – für ihre Verschuldung zahlen müssen. Ohne deutliche
Bilanzverkürzung – also Vernichtung von in den letzten Jahren massiv
geschaffenen Geldes – wird sie das monetäre Phänomen der Inflation nicht
in den Griff bekommen. Das würde aber nicht nur Italien das Genick
brechen. Die Rezession der Realwirtschaft fangen die, von der EZB
alimentierten, neuen Staatsschulden auf. Der Wohlfahrtsstaat beatmet die
Zombies weiter. Der Wiederaufbaufonds, der erstmalig der Kommission ein
Verschuldungs- und Steuerrecht einräumt, unterliegt keinerlei
wirkungsvoller Kontrolle.
Angesichts von Ukraine- und Energiekrise werden auch immer wieder
Forderungen laut, ein vergleichbares Instrument aufzusetzen. Sowohl aufseiten der Geld- als auch aufseiten der Fiskalpolitik ist ein Umlenken
schlicht nicht mehr möglich. Die jüngste Ankündigung der Kommission, ein
Notfallinstrument für den Binnenmarkt zu schaffen, ist der letzte
Sargnagel für das marktwirtschaftliche System. Das Preissystem – der
beste Allokationsmechanismus knapper Güter, den wir kennen – ist
zertrümmert. Immerhin habe ich mir damals schon für meinen Steckbrief im
Abibuch überlegen müssen, welche Inschrift mein Grabstein tragen solle:
Lisa in the sky with diamonds. John Lennon soll mit dem
Titel des Songs auf LSD angespielt haben. Vielleicht das einzige Mittel,
um eine Zombieapokalypse zumindest in schönen Farben zu erleben.
Ein Fortsetzungsbeitrag erscheint in Kürze.