Donnerstag, 6. Oktober 2022

Der Kontinent der lebenden Toten

 

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Der Kontinent der lebenden Toten

Eine staatliche Geldflut liegt zwischen der Reichtumsillusion und der Realität – noch. Das „reiche Europa“ ist längst ein Friedhof der lebenden Toten. Es ist in einem Schneeballsystem gefangen.

„Ich bin mir nicht sicher, ob es nächstes Jahr überhaupt noch ein Europa gibt“, sagte ein amerikanischer Finanzkommentator Anfang September. Die norwegische Energiegruppe Equinor hatte gerade eine Schätzung bekannt gegeben, nach der sich europäische Energieunternehmen Margin Calls in Höhe von 1,5 Billionen Euro gegenübersehen. Die Margin ist eine Sicherheitszahlung im Termingeschäft. Käufer und Verkäufer schließen einen langfristigen Liefervertrag. Preis und Menge werden im Voraus festgelegt. Steigt nun der Preis über den vertraglich festgelegten, so steigt das Risiko, dass der Verkäufer nicht mehr liefert, ist es doch ein Verlustgeschäft für ihn.

Als Sicherheit für den Käufer wird der Verkäufer indessen aufgerufen, die Differenz zwischen vereinbartem Preis und dem aktuellen Marktpreis zu hinterlegen – ein Margin Call. Und diese müssen die Energieunternehmen bald bedienen. Die Differenz zwischen langfristig abgemachten Lieferpreisen der europäischen Energieunternehmen und Marktbeschaffungspreisen liegt also bei 1,5 Billionen Euro. Und die Norweger sagen, sie hätten konservativ geschätzt. Die europäischen Staaten springen nun ein und retten ihre Energieunternehmen. Sie versprechen, für die Verluste einzustehen, ohne dass irgendwer real ärmer werden muss. Das ist das Versprechen des modernen Wohlfahrtsstaates. Und er hält es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. 

Seit den 1970er-Jahren steigen öffentliche und private Verschuldung kontinuierlich an. Früher, also vor dem Zweiten Weltkrieg, konnte man Wirtschaftskrisen hervorragend in der Entwicklung der privaten Verschuldung ablesen. Auf eine Krise folgte eine schmerzhafte Entschuldung des Privatsektors. Unrentable Firmen erhielten keinen Kredit mehr, mussten Überschüsse erwirtschaften oder verschwanden vom Markt. Haushalte rutschten in bittere Armut. Die Toten wurden für tot erklärt und begraben. Aber das Wachstum kam schnell wieder in Schwung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bleibt die private Verschuldung im Krisenverlauf so ruhig wie die See bei Flaute. Sie steigt gemütlich und stetig an. Krisen lassen sich jetzt in der staatlichen Verschuldung erkennen. Die Verluste werden vom Staat übernommen. Unternehmen verschwinden nicht vom Markt, und Haushalte verarmen nicht. Ein Schneeballsystem. Der Staat springt mit Transfers überall da ein, wo es hakt und verspricht dafür Wachstum, mit dem die gestiegene Staatsschuld in Zukunft bezahlt werden kann.

Die Märkte glauben an das Wachstumsversprechen der Länder und finanzieren die Verschuldung. Die Bevölkerung glaubt an den Staat und glaubt daran, dass er jedes Risiko abfängt – oder können Sie ohne Supermarkt überleben? Sie glaubt daran, dass die Währung ein sicheres Transaktionsmittel ist, das man morgen noch genauso gut gegen Waren eintauschen kann wie heute. Solange alle in der Kette an die gegebenen Versprechen glauben, fallen die lebenden Toten, die durch die Straßen schlurfen, gar nicht auf. Können alle gegebenen Versprechen eingehalten werden, sind sie auch gar nicht weiter schlimm. 

400 Prozent deutsche Staatsverschuldung 

Die Wohlfahrtsstaaten sind weit über die von ihnen offiziell angegebenen Werte verschuldet. Zur expliziten Verschuldung, die im Falle Italiens aktuell 150 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung entspricht, kommt noch die implizite Staatsschuld, also all die Versprechen des Staates, die Pensionen, Sozial- und Gesundheitsleistungen in Zukunft zu zahlen, hinzu. Für Deutschland summieren sich diese Versprechen, laut einer Berechnung des Finanzwissenschaftlers Bernd Raffelhüschen, aktuell auf fast 330 Prozent des BIP. Damit steht Deutschland nicht mit den angegebenen 71 Prozent Staatsverschuldung, sondern mit 400 Prozent Staatsverschuldung da.

Ein Land, in dem – gemäß einer kürzlich veröffentlichten Studie – jeder zweite Vollzeitbeschäftigte gern die 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich hätte. Dabei müsste Deutschland vier Jahre arbeiten, damit die gegebenen Versprechen auch bezahlt werden können. Dass daran schon lange keiner mehr glaubt, sieht man daran, dass das Volumen der von der EZB gekauften Euro-Staatsanleihen mittlerweile 95,5 Prozent der neu ausgegebenen Schuldtitel der Euro-Mitgliedsländer entspricht. Das ist ein good old-fashioned Ponzi Scheme. Wir merken es noch nicht, aber wir sind längst so viel ärmer geworden. Allein der Schleier der Geldflut liegt noch zwischen der Reichtumsillusion und der der Realität. Das „reiche Europa“ ist längst ein Friedhof der lebenden Toten. Nur die enorme Staatsschuldenblase steht zwischen uns und der ewigen Ruhe.

Schulden an sich sind nicht das Problem. Sie sind ein wunderbares Mittel, um schon heute von zukünftigen Produktivitätszuwächsen zu profitieren. So können etwa Lasten auf mehrere Generationen verteilt werden. 30 Milliarden für Uniper hier, 400 Milliarden Darlehen für die Umsetzung des europäischen Grünen Deals dort, Kurzarbeitergeld, Tankrabatt, Rentenniveau, Pflegeversicherung, Gesundheitsvorsorge, Infrastruktur. Kann man machen. Wenn die Zinsen niedrig sind und das Wachstum hoch.

Der ehemalige Chefökonom des IWF, Olivier Blanchard, forderte in einer Rede 2019 die Staaten dazu auf, angesichts der anhaltend niedrigen Zinsen mehr Schulden zu machen. Solange das Wachstum die Zinsen übersteigt, kann ein Land einfach aus den Schulden herauswachsen, die Verschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung schrumpft automatisch. Hält das Niedrigzinsumfeld an und wachsen die Volkswirtschaften weiter, so ist der Verschuldungspfad tragfähig.

Heute würde Blanchard seine Rede bestimmt nicht mehr so halten. Er ist kein schlechter Ökonom und weiß, dass Staatsverschuldung selbst die Zinsrate, aber auch das Wachstum beeinflussen. Ihr 2008 erschienenes Buch über die Finanzkrise nannten die Ökonomen Reinhard und Rogoff nicht umsonst „This time is different!“ – diesmal ist es anders. Krisen werden deshalb Krisen, weil vor ihrem Ausbruch genug Leute versicherten, dass man sich keine Sorgen zu machen brauche, weil diesmal alles anders sei. Die Zombies sitzen derweil debil lächelnd auf der Verschuldungsblase wie auf einem Sitzsack.

Der Wohlfahrtsstaat erhält einen Margin Call

Was Blanchard nicht beachtet, ist, dass der Staat sein Geld immer höchst ineffizient ausgibt. Die Verflechtung von Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung schaffen Möglichkeiten für Lobbymacht und Gefälligkeiten. Sie setzen neue Anreize, das zentralisierte System für eigene Zwecke zu nutzen. Glaubt der Markt nicht mehr an das Wachstumsversprechen, steigen die Zinsen, zu denen sich der Staat verschulden kann. Der Wohlfahrtsstaat erhält einen Margin Call. Er soll eine Sicherheit für seine geleisteten Versprechen hinterlegen. Und das kann er nicht. Arbeiten Sie mal vier Jahre, einzig, um ihre Schulden zu begleichen. Nach ein paar Tagen sind sie verdurstet.

Der Kaiser ist nackt. Europa ein Friedhof. Entweder werden die Verluste nun real. Wie vor dem Zweiten Weltkrieg macht eine Krise auf einmal wieder ärmer. Wie bei jedem Schneeballsystem ist derjenige der Verlierer, der noch investiert ist, wenn die Musik bereits ausgesetzt hat. Jedoch hat kein Politiker ein Interesse daran. Von Zombies Angefressene werden sie kaum wählen. Es ist besser, alle bleiben ruhig auf der Schuldenblase sitzen. Die Zentralbank springt ein. Sie alimentiert die realwirtschaftlichen Verluste mit neuem Geld, solange, bis die Schulden, durch die verursachte Inflation, nichts mehr wert sind. Im November 1923 entsprachen die 164 Milliarden Mark Kriegsschulden des deutschen Kaiserreichs noch 16,4 Pfennige. Aus diesem Elend speiste sich der Nationalsozialismus.

Ein solcher Margin Call wurde diese Woche einigen britischen Pensionsfonds zugestellt. Aus regulatorischen Vorgaben sind sie, wie alle anderen regulierten Vorsorgevehikel auch, dazu verpflichtet, in geringe Risiken langfristig zu investieren. Laut staatlichem Regulator weisen demnach Staatsanleihen ein Risiko von null aus. Sie sind absolut sicher. Sagt der Staat. Als die britische Regierung am 23. September ein schuldenfinanziertes Minibudget vorstellte, schmierten Pfund und Staatsanleihen ab. Der Markt bepreiste das Risiko einer Staatsschuldenkrise neu. Pfund zu halten, wurde weniger attraktiv, aus Angst vor steigender Inflation. Das Versprechen des Staates, Schulden durch mehr Wachstum in der Zukunft easy zurückzahlen zu können, war als Sicherheit nicht mehr genug. Der Kursverfall brachte die Pensionsfonds derart in Schieflage, dass die Bank of England ein Kaufprogramm in Höhe von 65 Milliarden Pfund anstieß, um den Preis der Staatsanleihen zu stabilisieren. Die Bank of England finanziert das Budgetdefizit der britischen Regierung. Kontinentaleuropäische Verhältnisse auf der Insel. 

Die EU ist selbst ein Zombie

Bei der Vorstellung des Gaspreisdeckels am 29. September erwähnte Finanzminister Lindner mehrfach, dass die deutsche Haushaltspolitik nicht vergleichbar mit der britischen sei. Die „deutschen Staatsanleihen [seien] der Goldstandard in der Welt“. Letztendlich wird es auf die Reformfähigkeit des politischen Systems der Wohlfahrtsstaaten ankommen, ob und wie gut sie diese, sich seit Jahrzehnten aufbauende, Staatsschuldenkrise überstehen werden. Großbritannien und die USA sind auf intelligent erdachten politischen Institutionen gebaut. Checks and Balances und die Tradition der schottischen Aufklärung sind ein wichtiges Ass im Ärmel, wenn auch kein Garant dafür, den perfekten Sturm zu überdauern. Sie haben in der Geschichte politische Irrwege erkannt und korrigiert. Die Fed erhöht die Zinsen weiter, entgegen der Erwartungen des Marktes, und verkauft in der Krise erworbene Wertpapiere.

Vielleicht wird der nächste US-Präsident einen Sparkurs einleiten, die Ansprüche gegenüber dem Staat reformieren. Der Wettbewerb unter den Bundesstaaten ist die Art Subsidiarität, die die EU mittlerweile zu verachten scheint. Großbritannien konnte sich vom zentralplanerischen und nicht reformierbaren institutionellen Gefüge der Europäischen Union lösen. Allein das verspricht der Insel bessere Wachstumsaussichten als jedem Mitgliedsland. Die Bank of England wird ebenfalls eine Bilanzverkürzung starten und Wertpapier im Umfang von 80 Milliarden Pfund in den nächsten 12 Monaten verkaufen. Diese Länder haben alle einen großen Friedhof aber dennoch noch einen Dorfplatz, auf dem ein gut besuchter Wochenmarkt stattfindet. Es besteht noch Hoffnung, dass sich die Bewohner der Zombieapokalypse entgegenstellen können.

Die EU hingegen ist selbst ein Zombie. Alles, was wir aktuell in der Geld- und Fiskalpolitik der Eurozone erleben, ist Leichenfledderei. Die Tragfähigkeit der Staatsschulden der Euroländer ist nur bei gleichbleibend niedrigen Zinsen für Staatsanleihen gegeben. Eher nimmt die EZB Inflationsraten jenseits ihres Mandats in Kauf, als dass sie Italien pleitegehen und den Euro damit untergehen lässt. Die EZB hat ihre Glaubwürdigkeit vertan. Sie hebt die Zinsen an, löst eine Rezession aus und stabilisiert im gleichen Atemzug die Staatsanleihen strauchelnder Euroländer. Sie steuert also auf eine Yield Curve Control zu. Das bedeutet, dass eine Zentralbank Papiere eines Landes so lange kauft, bis der gewünschte Zinssatz erreicht ist. Yield Curve Control hat die Fed z.B. während des Zweiten Weltkriegs betrieben, um die Kosten der enormen Kriegsverschuldung im Griff zu halten.

Das neue „Transmission Protection Instrument“ erlaubt der EZB, immer dann einzugreifen, wenn Mitgliedstaaten am Markt falsche Preise – also höhere Zinsen – für ihre Verschuldung zahlen müssen. Ohne deutliche Bilanzverkürzung – also Vernichtung von in den letzten Jahren massiv geschaffenen Geldes – wird sie das monetäre Phänomen der Inflation nicht in den Griff bekommen. Das würde aber nicht nur Italien das Genick brechen. Die Rezession der Realwirtschaft fangen die, von der EZB alimentierten, neuen Staatsschulden auf. Der Wohlfahrtsstaat beatmet die Zombies weiter. Der Wiederaufbaufonds, der erstmalig der Kommission ein Verschuldungs- und Steuerrecht einräumt, unterliegt keinerlei wirkungsvoller Kontrolle.

Angesichts von Ukraine- und Energiekrise werden auch immer wieder Forderungen laut, ein vergleichbares Instrument aufzusetzen. Sowohl aufseiten der Geld- als auch aufseiten der Fiskalpolitik ist ein Umlenken schlicht nicht mehr möglich. Die jüngste Ankündigung der Kommission, ein Notfallinstrument für den Binnenmarkt zu schaffen, ist der letzte Sargnagel für das marktwirtschaftliche System. Das Preissystem – der beste Allokationsmechanismus knapper Güter, den wir kennen – ist zertrümmert. Immerhin habe ich mir damals schon für meinen Steckbrief im Abibuch überlegen müssen, welche Inschrift mein Grabstein tragen solle: Lisa in the sky with diamonds. John Lennon soll mit dem Titel des Songs auf LSD angespielt haben. Vielleicht das einzige Mittel, um eine Zombieapokalypse zumindest in schönen Farben zu erleben. 

Ein Fortsetzungsbeitrag erscheint in Kürze.