https://www.nzz.ch/international/der-raetselhafte-ahmed-abiy-ld.1438878
Eines seiner Lieblingswörter in seinen Reden und Interviews ist «Liebe». Ein Tauwetter durchzieht das Land mit seinen hundert Millionen Einwohnern. Die «Abiymania», die euphorische Verehrung des Staatsmanns, nimmt fast schon religiöse Züge an; kürzlich erschien eine Biografie über ihn mit dem Titel «Moses»; der Bestseller suggeriert, dass Abiy wie einst der Prophet sein Volk ins versprochene Land führe.
Dabei ist Abiy erst 42-jährig, der jüngste Staatsmann Afrikas, und nichts in seinem Lebenslauf deutete darauf hin, dass er dereinst eine Art Obama oder Gorbatschow am Horn von Afrika werden könnte.
Einst Internetüberwacher
Eigentlich war Abiy lange ein loyaler Funktionär des repressiven Systems. Er studierte Betriebswirtschaft und Informatik, stieg während seines Militärdiensts bis zum Oberstleutnant auf, ging als Uno-Soldat nach dem Genozid nach Rwanda, kämpfte in der äthiopischen Armee gegen Eritrea und baute ab 2009 die staatliche Internetkontrollbehörde auf. Anschliessend wechselte er in das Ministerium für Forschung und Technologie.
Im Februar 2018 wurde der glücklose Ministerpräsident Hailemariam Desalegn entlassen, nachdem es ihm nicht gelungen war, den Aufstand der Oromo zu unterdrücken. Die Oromo sind die grösste Volksgruppe in Äthiopien, bisher hatten aber die Tigray das Sagen. Abiy selbst, der zwei Monate später vom Parlament zum Staatschef gewählt wurde, gehört den Oromo an. Vielleicht dachten die Strippenzieher, mit der Wahl eines – scheinbar harmlosen – Oromo könne der Aufruhr besänftigt werden.
Inzwischen ist das Gegenteil eingetreten. Die Unruhen in den Oromo-Gebieten sind wieder aufgeflammt, das Problem ist alles andere als gelöst. Aber in allen anderen Bereichen krempelt Abiy das Land in Windeseile um.
War Abiy schon immer ein heimlicher Revolutionär, passte sich aber äusserlich bei seinem Marsch durch die Institutionen an, bis er nun, an der Spitze des Staates, sein wahres Gesicht zeigt? Oder hat er sich in kurzer Zeit radikal verändert und wurde vom farblosen Technokraten zum radikalen Reformator? Blickt man sich seine Biografie etwas genauer an, zeigen sich hinter der glatten Oberfläche schon früh Anzeichen, die auf sein Anderssein hindeuten.
Hochgebildeter Vermittler
Geboren wurde er 1976, zwei Jahre nach dem Sturz des Kaisers Haile Selassie und der Installation des militärisch-kommunistischen Derg-Regimes. Bemerkenswert ist, dass Abiys Vater ein muslimischer Oromo ist, die Mutter hingegen eine christliche Amharin. In seiner Dissertation beschäftigte sich Abiy später mit der Lösung konfessioneller Konflikte.
Offenbar war er schon als Kind sehr lerneifrig und verbrachte viel Zeit mit Lektüre. Während der repressiven Derg-Jahre wurde Abiys Vater inhaftiert und sein Bruder umgebracht. Bereits im Alter von 15 Jahren trat Abiy der Oromo People’s Democratic Organization (OPDO) bei und erwarb sich den Übernamen «Abyot» (Revolution). Er erhielt eine militärische Ausbildung im Bereich Funk und Spionage. Zu dieser Zeit lernte er Tigrinya, vermutlich aus strategischen Gründen, weil die Armeespitze schon damals vor allem aus Tigray bestand.
Seine Frau, die er zu dieser Zeit heiratete, spielte im Armeeorchester und ist Christin.
2010 wurde Abiy stellvertretender Direktor des Geheimdienstes, an dessen Aufbau er beteiligt gewesen war. Als in seiner Heimatstadt Beshasha radikale Muslime ein Gemetzel unter orthodoxen Christen anrichteten, wurde Abiy als Vermittler in den Ort entsandt, wo es ihm gelang, die Ruhe wiederherzustellen. Kurz darauf schlug er seine politische Laufbahn ein und wurde als Parlamentarier gewählt.
Während dieser Zeit erwarb er einen M. A. in «Transformational Leadership and Change Management» in London und einen MBA in Addis Abeba. Er wurde Direktor des staatlich finanzierten Forschungsinstituts Science and Technology Information Center und Forschungs- und Technologie-Minister. Allerdings nur für ein Jahr. Dann wandte er sich wieder seiner Heimatregion und dem Konflikt rund um sein Volk, den Oromo, zu und machte sich einen Namen als Vermittler in einer hoffnungslos scheinenden Situation.
Der Auslöser für die gewaltsamen Auseinandersetzungen war der Plan der Regierung gewesen, das Stadtgebiet von Addis Abeba auszuweiten. Zu diesem Zweck wurden zahlreiche Oromo-Bauern rund um die Hauptstadt enteignet. Das befeuerte die schon länger dauernde Unzufriedenheit, die sich schliesslich 2015 in Protesten in der Kleinstadt Ginchi entlud.
Dieses Mal ging es um Grundstücke, die einer Schule weggenommen wurden. In einem überraschenden Schritt gab die Regierung nach und machte diese Enteignung rückgängig. Das beruhigte die Situation jedoch nicht, im Gegenteil. Die Proteste weiteten sich aus, bald schlossen sich den Oromo die Amhara an, die sich gegenüber den dominierenden Tigray ebenfalls diskriminiert fühlten.
Die Regierung war ratlos. Weder Repression noch punktuelles Nachgeben konnten den Aufruhr beschwichtigen. Abiy, der Experte für Konfliktlösung, war auf einmal der Mann der Stunde.
Schnelle Erfolge gefragt
Trotz seinem Erfolg hat Abiy zweifellos mächtige Feinde. Im Juni dieses Jahres versuchten Unbekannte ein Attentat auf ihn zu verüben, im Oktober wäre er fast einem Militärkomplott zum Opfer gefallen. Er entliess Leute wie den Generalstabschef der Streitkräfte und andere Exponenten der alten Garde.
Prompt wird ihm Diskriminierung der Tigray vorgeworfen. Was ihn im Moment schützt, ist vor allem die breite Unterstützung im Volk. Seine Entmachtung würde einen Aufstand auslösen. Aber es ist ein Rennen gegen die Zeit. Er muss unumkehrbare Tatsachen schaffen, solange er auf dieser Welle der Verehrung schwimmt.
Und er muss konkrete Resultate vorweisen, die die Situation der Bürger verbessern, vor allem auch unter den unzufriedenen Oromo. Äthiopien weist zwar seit Jahren imposante Wachstumsraten auf, die Mehrheit des Volkes lebt jedoch weiterhin in Armut. Paradoxerweise kommt Abiy ausgerechnet das autoritäre System, das er demontiert, zugute. Nur dank der Machtfülle seines Amtes kann er seine Reformen in solchem Tempo und gegen den Widerstand der alten Parteikader umsetzen.
Nur dank seiner Position an der Spitze einer ausgeklügelten, alteingesessenen Hierarchie kann er das Land in Richtung Modernisierung, Demokratisierung und Liberalisierung führen.
ENDE