«Ich
hole euch lebendig raus, aber ich bringe nicht alle lebendig zurück»:
Der Chef der Kampfgruppe Wagner spielt Schicksalsgott für russische
Gefangene
Der
geheimnisumwitterte Unternehmer Prigoschin zählt zum engsten Kreis um
Präsident Putin. Nun erregt er mit einem Video Aufsehen – und bestätigt
darin manche Gerüchte über seine Sondertruppe.
Andreas Rüesch
Jahrelang
hielt sich der russische Geschäftsmann Jewgeni Prigoschin im Schatten.
Den amerikanischen Vorwurf, er sei der Financier der berüchtigten
St. Petersburger «Trollfabrik» und leite die paramilitärische Gruppe
Wagner, wies er stets zurück. Es gab auch kaum Bilder von ihm. Doch mit
dem Überfall auf die Ukraine hat sich dies geändert. Nicht nur sind
Prigoschins Dienste als Kriegsunternehmer äusserst gefragt, er versteckt
sich auch weniger als früher. Nun ist erstmals ein Video von ihm
aufgetaucht, in dem er freiheraus als Wagner-Chef auftritt. Gefilmt
wurde es vor kurzem in einem russischen Straflager 640 Kilometer östlich
von Moskau, wo er unverblümt Häftlinge für den Kriegseinsatz anwarb.
Bereits im Juli hatte es die ersten Berichte
über Prigoschins Werbetour durch Russlands Parallelwelt der
Gefangenenlager gegeben. Das meiste beruhte damals aber noch auf
Hörensagen. Das nun von oppositioneller Seite publizierte Video
bestätigt die Berichte und gibt erstmals einen konkreteren Eindruck von
dieser Schlüsselfigur in der Grauzone von Geschäft und Kreml-Macht.
Mehr Macht als «Gott und Allah»
Prigoschin
weiss, wie man mit Häftlingen spricht; er sass einst selber eine
jahrelange Strafe ab. Bei seinem Auftritt im Gefängnishof verliert er
nicht viele Worte. Fünf Minuten Zeit hätten sie zum Entscheiden, sagt er
den um ihn versammelten Häftlingen. Der Krieg sei unvergleichlich hart.
Der Munitionsverbrauch übersteige jenen in der Schlacht von Stalingrad
um ein Mehrfaches. Aber wer sich jetzt der Gruppe Wagner anschliesse und
den Einsatz ein halbes Jahr überlebe, komme in den Genuss einer
Begnadigung und dürfe nach Hause.
Prigoschin
erläutert, dass alle zwischen 22 und 50 Jahren in Betracht kämen, aber
es gebe Ausnahmen. Drogen und Sex kämen beim Kriegseinsatz nicht
infrage, Deserteure würden erschossen. Auch sonst führt sich der
Geschäftsmann als Herr über Tod und Leben auf. Barsch fragt er die zu
zehn oder mehr Jahren verurteilten Gefangenen, ob irgendjemand sonst sie
hier herausholen könne. Die Antwort liefert er gleich selber: «Es gibt
zwei: Gott und Allah. In einer Holzkiste.» Er hingegen biete eine echte
Chance: «Ich hole euch lebendig raus, aber ich bringe nicht alle
lebendig zurück.»
Ausschnitt aus dem erwähnten Video.
An
der Echtheit der Aufnahme bestehen keine Zweifel. Prigoschin ist darauf
gut erkennbar, ein Merkmal sind auch die ihm von Putin verliehenen
beiden «Held Russlands»-Orden auf seiner Brust. Seine Firma und
Wagner-nahe Blogger haben die Authentizität indirekt bestätigt.
Wie
viele Strafgefangene der Wagner-Chef mit dem Versprechen auf Freiheit
in den Krieg gelockt hat, ist unbekannt. Aber gerüchteweise ist die Rede
von mehreren tausend. Ein in ukrainische Gefangenschaft geratener
früher Sträfling erzählte,
dass allein aus zwei Gefängnissen in der Provinz Rjasan 150 Insassen
auf das Angebot eingestiegen seien. Es ist unvorstellbar, dass
Prigoschin ohne Auftrag des Kremls handelt, denn nur der Präsident kann
Häftlinge begnadigen. Dies zeigt auch, dass Wagner letztlich ein
weiterer Arm des russischen Regimes ist.
Keine klassischen Söldner
In
Medien wird die Organisation oft als Söldnerfirma bezeichnet. Doch dies
ist irreführend – und wohl auch die Folge von russischer Propaganda.
Dem Kreml ist daran gelegen, Wagner als Privatunternehmen darzustellen,
mit dem der Staat nichts zu tun hat. Doch die kommerzielle Fassade ist
eher formaler Natur, in Wirklichkeit ist Wagner eng mit dem
Sicherheitsapparat verflochten. Es ist daher zutreffender, von einer
paramilitärischen Organisation zu sprechen. Die Wagner-Kämpfer erhalten
zwar eine grosszügige Entlöhnung für ihre Einsätze, aber dasselbe gilt
für die vielen Freiwilligen, die nun von den russischen
Regionalregierungen rekrutiert werden. Auch die Vertragssoldaten der
Armee beziehen ein Gehalt.
Charakteristisch
für eine Söldnerfirma ist, dass sie ihre Dienste allen möglichen Kunden
anbietet. Doch gerade dies trifft auf Wagner nicht zu. Prigoschins
Kämpfer tauchen nur dort auf, wo Russland seine Grossmachtinteressen
verfolgt: in Syrien, in Moskaus afrikanischen Klientelstaaten, in Libyen
und schon ab 2014 in der Ukraine. So, wie Geheimdienste sich gerne
hinter Frontfirmen verstecken, nutzte der Kreml die Gruppe Wagner vor
dem jetzigen Krieg für Operationen, zu denen er sich nicht offiziell
bekennen wollte. Dass es in Wirklichkeit eine paramilitärische Einheit
des Staates ist, lässt sich schon daran erkennen, dass die
Wagner-Kämpfer mit Waffen aus russischen Arsenalen ausgerüstet sind.
Prigoschin
bestätigt dies im Video mit seiner Prahlerei, dass er über
Kampfflugzeuge verschiedener Typen, Panzer und Mehrfachraketenwerfer
verfüge. Verschiedene Bildquellen aus der Ostukraine zeigen
Wagner-Kämpfer auch mit russischen Schützenpanzern und Haubitzen. Das
folgende Video zeigt Wagner-Truppen mit einigen dieser Waffen im
Einsatz:
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Westliche
Sicherheitsfirmen verfügen typischerweise nicht über schwere Waffen.
Dass Wagner auch eine Luftwaffe hat, stellte sich Ende Mai heraus, als
ein von der Organisation angeheuerter pensionierter General mit seinem
Kampfjet über der Provinz Luhansk abgeschossen wurde.
Wichtige Rolle an der Donbass-Front
Ein
Blick auf die militärischen Lagekarten westlicher Beobachter zeigt,
dass die Gruppe Wagner integriert in die Moskauer Kriegsplanung ist. Sie
ist derzeit zuständig für einen Frontabschnitt im Donbass, bei Bachmut
und weiter südlich. Da es sich bei ihren Mitgliedern – abgesehen von den
Strafgefangenen – meist um erfahrene frühere Berufssoldaten handelt,
gilt ihre Kampfkraft als weit überdurchschnittlich.
Einen
aufsehenerregenden Erfolg erzielte Wagner im Juli bei der Erstürmung
des Kohlekraftwerks Wuhlehirsk, der einst grössten derartigen Anlage des
Landes. Insgesamt vermochten die Wagner-Kämpfer die Front in diesem
Sommer um etwa 20 Kilometer nach Westen zu verschieben, was nicht viel
ist, aber im Vergleich mit anderen Einheiten dennoch herausragt.