Schlaraffenland?
Indische Stadt funktioniert ohne politische Parteien und Bargeld
Keine Hierarchien, dafür Grundeinkommen für alle und viele Grünflächen: Was nach einer Utopie klingt, scheint im indischen Auroville – mit Abstrichen – zu funktionieren
"In dieser Stadt ist alles anders", sagt Subhadip Chakraborty. Es gebe keine großen Häuser, kein ausgebildetes Wirtschaftssystem und damit auch keine großen Bürokomplexe oder Bargeld; nur wenige Shops und – was in einer indischen Stadt wohl am meisten überrascht – kaum Verkehr. Was es dafür gibt: ein Meditationszentrum, E-Autos, einen Wald, der das komplette Stadtzentrum umringt, und das gleiche Grundeinkommen für alle.
"Die Menschen in Auroville streben nicht nach dem nächsten Karriereschritt, mehr Geld oder einem teureren Auto", sagt Chakraborty. Der 32-jährige Inder hat die Kleinstadt im Südosten des Landes vor einem Jahren besucht.
Seit der Gründung 1968 wurden laut Angaben des Pitchandikulam Forest Virtual Herbarium, einer Organisation in Auroville, rund zwei Millionen Bäume rund um das Stadtzentrum gepflanzt. Derzeit leben rund 3.300 Menschen aus 60 Nationen in Auroville. Konzipiert wurde die Planstadt damals von der Gründerin Mirra Alfassa für 50.000 Menschen.
Derart viele Personen scheint das gesellschaftliche System der Stadt bisher also nicht überzeugt zu haben. Es funktioniert ohne Bargeld, Privatbesitz, Polizei oder Bürgermeisterin. Gesundheitsversorgung, Bildung und auch Elektrizität sind frei zugänglich.
Die Stadt Auroville ist von einem Wald mit nahezu zwei Millionen Bäumen umgeben.
Foto: AFP/PUNIT PARANJPE
Entscheiden im Kollektiv
Doch wie organisiert sich eine derartige Kleinstadt?
Politische Parteien sind verboten, vor Gericht zu ziehen, ist
"inakzeptabel". Zwistigkeiten können in der "Village Liaison Group"
besprochen werden. Wichtige Entscheidungen treffen die Bewohnerinnen und
Bewohner gemeinsam in der Einwohnerversammlung. Kleinere Gruppen
organisieren Bereiche wie Landwirtschaft, Wohnen, Gesundheitssystem oder
Beitrittsprozesse. Hierarchien existieren nicht.
Die Verwaltung der Vermögenswerte hat die Auroville-Stiftung inne. Sie verantwortet seit Anfang der 90er-Jahre Ziele und Entwicklungen der Stadt. Die Vorstandsvorsitzende der Auroville-Stiftung ist von der indische Regierung entsandt.
Das Projekt wurde von Anbeginn von der indischen Regierung und den Vereinten Nationen unterstützt. Derartige Versuche seien unschätzbarer und integraler Bestandteil menschlicher Erfahrung, heißt es etwa in einem Unesco-Bericht. Zudem gebe es in der Stadt keine Religionen, man soll lediglich einem spirituellen Leben nachgehen, wird auf Website von Auroville betont.
Was nach einer Utopie klingt, scheint im Südosten von Indien tatsächlich zu funktionieren – zumindest bisher.
Touristinnen und Bewohner von Auroville finden sich rund um Matrimandir ein.
Grundeinkommen deckt Fixkosten
Da sich Auroville auf indischem Boden befindet, bekommt die Stadt öffentliche Gelder beispielsweise für Bildungsprojekte oder Straßenbau. Zudem spenden NGOs in Indien und weltweit Geld. Einnahmen hat Auroville auch durch dort ansässige Unternehmen, Gästebettvermietung oder Spenden von Besucherinnen und Besuchern.
Wer ein permanenter Bewohner der Stadt werden will, muss ein Jahr lang ein Volontariat auf eigene Kosten machen, erzählt Holzfeind. Das sei natürlich nur möglich, wenn man sich ein Jahr lang eine Unterkunft und Essen leisten kann, ergänzt Draeger. Auch aufgrund des Tourismus herrsche in Auroville ein hoher Lebensstandard, daher sei das nicht günstig.
Wer allerdings bereits ständiger Bewohner ist, kann ein Grundeinkommen beantragen. Eine einheitliche Summe wird dann auf die sogenannte Aurocard überwiesen. Sie soll Fixkosten decken. "Das Konzept beruht auf der Idee, dass jede Arbeit gleich viel wert ist", sagt Holzfeind. Unternehmerinnen, die insbesondere besser verdienen als Bauern, zahlen einen Teil ihres Gewinnes an die Gemeinschaft.
Kein Privatbesitz
Alle Aurovillianerinnen und Aurovillianer bekommen zudem einmal täglich ein Mittagessen, das in der sogenannten Solar Kitchen zubereitet wird. Gekocht wird direkt mit der Hitze der Sonnenstrahlen, ohne sie zuvor in Strom umzuwandeln.
Privatbesitz wie Grundeigentum existiert nicht. Die Menschen können lediglich ein Wohnrecht erwerben. Wenn sie die Stadt verlassen oder versterben, geht die Immobilie zurück an die Stadt und somit zurück an die Gemeinschaft. Auch im Paradies muss man eben Abstriche machen. (Julia Beirer, 12.3.2023)
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